Verpflichtung zur Desinteresseerklärung

In einem aktuellen Entscheid verneinte das Appellationsgericht BS den Rechtsmissbrauch, weil auch die Gegenpartei die abgegebenen Verpflichtungen nicht erfüllt habe. Das Bundesgericht bestätigt (BGer 6B_1039/2019 vom 16.06.2020):

In der Vereinbarung vom 12. Februar 2018 verpflichtete sich der Beschwerdeführer unter anderem, der Beschwerdegegnerin 2 mit Wirkung ab 1. März 2018 bis und mit 31. Oktober 2020 einen monatlich vorauszahlbaren nachehelichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 900.– zu bezahlen. Dieser Verpflichtung kam der Beschwerdeführer gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen nicht nach. Es erscheint daher verständlich, dass auch die Beschwerdegegnerin 2 auf ihre Zusage, ihr Desinteresse an der Strafverfolgung gegen den Beschwerdeführer zu erklären, zurückkam. Angesichts des Umstands, dass es sich bei Art. 2 Abs. 2 ZGB um einen “Notbehelf” handelt und Rechtsmissbrauch nur restriktiv anzunehmen ist, verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie zum Schluss gelangt, die Beschwerdegegnerin 2 verhalte sich nicht rechtsmissbräuchlich, wenn sie sich weigere, den Strafantrag zurückzuziehen. Damit besteht ein gültiger Strafantrag. Den Schuldspruch wegen Vernachlässigung von Unterhaltspflichten betreffend erhebt der Beschwerdeführer keine Rügen (E. 2.4.2)..

Der Entscheid enthält übrigens auch Definitionen von rechtsmissbräuchlichem Verhalten:

2.3.2. Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Als allgemeiner Rechtsgrundsatz gilt das Rechtsmissbrauchsverbot in der ganzen Rechtsordnung mit Einschluss des öffentlichen Rechts sowie des Prozess- und Vollstreckungsrechts. Es bildet Bestandteil des schweizerischen Ordre public und ist von jeder Instanz von Amtes wegen anzuwenden (BGE 143 III 666 E. 4.2 S. 673; 128 III 201 E. 1c S. 206; je mit Hinweisen). Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn ein Rechtsinstitut zweckwidrig zur Verwirklichung von Interessen verwendet wird, die dieses Rechtsinstitut nicht schützen will (BGE 143 III 279 E. 3.1 S. 281; 140 III 583 E. 3.2.4 S. 589; 138 III 425 E. 5.2 S. 431; 128 II 145 E. 2.2 S. 151; je mit Hinweisen). Ob eine Berechtigung missbräuchlich ausgeübt wird, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (BGE 143 III 279 E. 3.1 S. 281; 138 III 425 E. 5.2 S. 431; 135 III 162 E. 3.3.1 S. 169; 121 III 60 E. 3d S. 63; je mit Hinweisen). Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn der Rückgriff auf das Rechtsinstitut mit dem angestrebten Zweck nichts zu tun hat oder diesen gar ad absurdum führt (HEINRICH HONSELL, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, 6. Aufl. 2018, N. 51 zu Art. 2 ZGB). Die Geltendmachung eines Rechts ist missbräuchlich, wenn sie im Widerspruch zu einem früheren Verhalten steht und dadurch erweckte berechtigte Erwartungen enttäuscht. Art. 2 Abs. 2 ZGB dient als korrigierender “Notbehelf” für die Fälle, in denen formales Recht zu materiell krassem Unrecht führen würde. Rechtsmissbrauch ist restriktiv anzunehmen. Einen Grundsatz der Gebundenheit an das eigene Handeln gibt es nicht. Vielmehr ist in einem Widerspruch zu früherem Verhalten nur dann ein Verstoss gegen Treu und Glauben zu erblicken, wenn dieses ein schutzwürdiges Vertrauen begründet hat, das durch die neuen Handlungen enttäuscht wird (BGE 143 III 666 E. 4.2 S. 673 f. mit Hinweisen).

… und konkret im Zusammenhang mit Strafanträgen:

2.3.3. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung qualifiziert verschiedene Konstellationen im Zusammenhang mit dem Institut des Strafantrags als offenbar rechtsmissbräuchlich. Das Bundesgericht hielt fest, ein Strafantrag sei offenbar rechtsmissbräuchlich gestellt worden, wenn der Antragsteller selbst durch grobes rechtswidriges Verhalten zur strafbaren Handlung des Täters unmittelbar Anlass gegeben habe (BGE 128 IV 154 E. 4 S. 163 f.; 105 IV 229 E. 1 S. 230; 104 IV 90 E. 3b S. 95; Urteil 6S.481/2002 vom 19. Juni 2003 E. 2.4, nicht publiziert in: BGE 129 IV 223). Weiter wurde offenbarer Rechtsmissbrauch angenommen in einem Fall, in dem eine vertraglich eingegangene Verpflichtung zum Rückzug des Strafantrags nicht eingehalten wurde. Das Bundesgericht erwog, solch widersprüchliches Verhalten verdiene keinen Rechtsschutz, jedenfalls dann nicht, wenn keine triftigen Gründe vorgebracht werden könnten, die ein Zurückkommen auf die frühere Zusage als verständlich erscheinen liessen (BGE 106 IV 174 E. 3 S. 178 f. mit Hinweis). Auch im Fall eines formell ungültigen Strafantrags und über zweijähriger Untätigkeit des Antragstellers hinsichtlich der Nachbesserung nahm das Bundesgericht Rechtsmissbrauch an (BGE 120 IV 107 E. 2c S. 109 ff.; zum Ganzen: Urteil 6B_913/2009 vom 18. März 2010 E. 4.1 mit Hinweisen; CHRISTOF RIEDO, Der Strafantrag [nachfolgend: Strafantrag], Diss. Freiburg 2004, S. 520 ff.). Schliesslich erachtete es das Bundesgericht nicht als rechtsmissbräuchlich, dass der Antragsberechtigte nach Widerhandlungen von verschiedenen Personen gegen ein richterliches Verbot, ein bestimmtes Grundstück zu betreten, nicht gegen alle Fehlbaren Strafantrag einreichte, da der Berechtigte unter Vorbehalt von Art. 32 StGB frei darüber entscheiden kann, welche Personen er verfolgen lassen will (Urteil 6B_913/2009 vom 18. März 2010 E. 4.2).  Die Ausprägungen des Rechtsmissbrauchs als zweckwidrige Rechtsausübung sowie als Schikaneverbot respektive als Gebot der schonenden Rechtsausübung sind im Bereich des Strafantrags ausgeschlossen, da es im Belieben des Antragsberechtigten steht, ein bestimmtes Delikt verfolgen lassen zu wollen oder nicht (CHRISTOF RIEDO, in: Basler Kommentar [nachfolgend: Basler Kommentar], Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 71 zu Art. 30 StGB; DERSELBE, Strafantrag, a.a.O., S. 527 f.). Notwendig ist die Annahme eines Rechtsmissbrauchs hingegen unter Umständen bei widersprüchlichem Verhalten des Antragsstellers (venire contra factum proprium [hierzu: HONSELL, a.a.O., N. 43 ff. zu Art. 2 ZGB]), namentlich wenn über die zu leistende Wiedergutmachung eine Einigung erzielt wurde und der Verletzte in der Folge entgegen der getroffenen Vereinbarung auf einer Strafverfolgung beharrt (RIEDO, Basler Kommentar, a.a.O., N. 71 zu Art. 30 StGB; vgl. auch DERSELBE, Strafantrag, S. 523 f., 528, 622).