Verschlechterungsverbot

Ein Beschuldigter, der erstinstanzlich zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, beantragte in der Berufung eine ambulante Massnahme unter Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe. Das Berufungsgericht verurteilte ihn dann aber zu Freiheitsstrafe und ambulanter Massnahme, was nach BGE 148 IV 89 eigentlich das Verschlechterungsverbot verletzt (Art. 391 Abs. 2 StPO). Das sieht auch das Bundesgericht so, grundsätzlich so(BGer 6B_1399/2021 vom 07.12.2022):

Im Grundsatz hat sie damit das Verschlechterungsverbot nach Art. 391 Abs. 2 StPO verletzt. Genauso wie etwa auf die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Garantien für ein faires Verfahren kann die beschuldigte Person jedoch auf den Schutz durch das Verschlechterungsverbot verzichten (vgl. Urteil 6B_671/2021 vom 26. Oktober 2022 E. 5.2.2 mit Hinweisen zum Verzicht auf ein kontradiktorisches Verfahren). Dies ist vorliegend geschehen. Auf Nachfrage hin gab der Beschwerdeführer gegenüber der Vorinstanz nämlich an, mit der Anordnung einer ambulanten Massnahme selbst dann einverstanden zu sein, wenn der Vollzug der Freiheitsstrafe zugunsten der Massnahme nicht aufgeschoben werde (…). Diese vorinstanzliche Feststellung wird vom Beschwerdeführer nicht (als willkürlich) gerügt und ist für das Bundesgericht daher verbindlich (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG; siehe hierzu anstatt vieler BGE 147 IV 73 E. 4.1.2). Indem der Beschwerdeführer persönlich in die Anordnung einer vollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme einwilligte, hat er die Möglichkeit eines strengeren Urteils im Berufungsverfahren ausdrücklich akzeptiert. Er bringt nicht vor, im besagten Zeitpunkt nicht urteilsfähig gewesen zu sein oder die Bedeutsamkeit seiner Aussage sonstwie nicht verstanden zu haben. Derartiges geht aus dem angefochtenen Urteil denn auch nicht hervor. Der Umstand allein, dass er verbeiständet ist (…), legt jedenfalls keine verminderte oder gar fehlende Urteilsfähigkeit in Bezug auf die Tragweite des Berufungsurteils nahe, zumal es sich gemäss Angaben des Beschwerdeführers (…) nur um eine Beistandschaft zur Einkommens- und Vermögensverwaltung handelt. Der Beschwerdeführer ist daher auf seiner Aussage zu behaften und es ist von einem Verzicht auf die durch Art. 391 Abs. 2 StPO gewährten Garantien auszugehen. Dass der Antrag der amtlichen Verteidigerin anders lautete, ändert daran nichts, denn es steht der beschuldigten Person frei, sich abweichend von ihrer Verteidigung zu äussern. Eine unzulässige reformatio in peius liegt nicht vor. (E. 1.3. Hervorhebungen durch mich).

Strafprozessrecht ist also dispositives Recht und der Beschwerdeführer führte Berufung, weil er ein schlechteres Urteil ausdrücklich wollte?

Im vom Bundesgericht zitierten Entscheid 6B_671/2021 E. 5.2.2 ging es übrigens um den Verzicht des Beschuldigten auf ein Recht (persönliche Anwesenheit anlässlich der Gerichtsverhandlung) und um die Beachtung der Garantien, die der Bedeutung eines Rechtsverzichts gerecht werden:

Darüber hinaus steht es der anwesenheitsberechtigten Person frei, auf die Garantien eines fairen Verfahrens, namentlich auf ihr Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, ausdrücklich oder stillschweigend zu verzichten. Verlangt wird nach der Rechtsprechung des EGMR, welcher sich das Bundesgericht angeschlossen hat, dass der Verzicht unzweideutig zum Ausdruck kommt und von einem Mindestmass an Garantien, die seiner Bedeutung gerecht werden, begleitet wird.

Im aktuellen Fall war nicht einmal klar, ob der Beschwerdeführer tatsächlich auf das Verschlechterungsverbot verzichtet hatte, zumal er dies in der Beschwerde offenbar bestritten, aber nicht als willkürlich gerügt hat. Abgesehen davon statuiert das Verschlechterungsverbot kein Recht, auf das man verzichten könnte, sondern eine verbindliche Vorschrift an das Berufungsgericht, um Verurteilte nicht von ihrem Berufungsrecht abzuhalten.