Verschlechterungsverbot erneut beschränkt

Einmal mehr schränkt das Bundesgericht den Anwendungsbereich des Verschlechterungsgebots (Art. 391 Abs. 2 StPO) ein und weist eine Beschwerde in einem neuen Grundsatzentscheid in ausserordentlicher Besetzung ab (BGE 6B_75/2023 vom 18.04.2023, Publikation in der AS vorgesehen).

Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich in einigen Anklagepunkten freigesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Nach seiner Berufungserklärung kassierte das Obergericht AG das erstinstanzliche Urteil noch bevor es den anderen Parteien die Berufungserklärung zustellte. Diese hatten daher keine Möglichkeit, die Anschlussberufung zu erklären. Eine selbständige Berufung hatten weder die Staatsanwaltschaft noch die Privatklägerschaft eingereicht.

Im Rückweisungsverfahren wurde der Beschwerdeführer dann auch in Anklagepunkten verurteilt, in denen er zuvor freigesprochen worden war. Die Strafe wurde erhöht. Er erklärte erwartungsgemäss wiederum die Berufung. Das Obergericht hiess diese teilweise gut, die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft wies es ab. Es blieb aber bei der Verschlechterung gegenüber dem ersten erstinstanzlichen Urteil. Darin sieht das Bundesgericht keine Verletzung des Verbots der reformatio in peius (Art. 444 StPO):

Der Beschwerdeführer hatte das erste Urteil der Erstinstanz vom 14. Februar 2019 in weiten Teilen angefochten. Mit Beschluss vom 19. September 2019 hatte die Vorinstanz dieses erste Urteil wegen offensichtlicher wesentlicher Mängel aufgehoben, noch bevor den anderen Parteien gestützt auf Art. 400 Abs. 2 StPO eine Kopie der Berufungserklärung übermittelt worden war. Dieses Vorgehen ist zulässig und drängt sich aus verfahrensökonomischen Gründen sogar auf bei gravierenden Verfahrensfehlern, wie sie die Vorinstanz angenommen hat (vgl. SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 4 zu Art. 409 StPO). 

Aufgrund dieser Konstellation wurde weder der Staatsanwaltschaft noch der Privatklägerschaft eine Frist zur Anschlussberufung gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO angesetzt. Bei dieser Ausgangslage kann das Verschlechterungsverbot im Rückweisungsverfahren nicht zur Anwendung gelangen. Andernfalls würden die Parteirechte der Staatsanwaltschaft und der Privatklägerschaft missachtet. Es kommt hinzu, dass das Berufungsgericht in einem zweiten Berufungsverfahren nicht an das Verschlechterungsverbot gebunden ist, wenn die Staatsanwaltschaft oder die Privatklägerschaft mit Berufung oder Anschlussberufung entsprechende Anträge stellen. 

Wie bereits die Vorinstanz zutreffend ausführt, liegt darin auch kein Widerspruch zu BGE 143 IV 408. In jenem Fall hatte die Staatsanwaltschaft die erstinstanzlichen Freisprüche und Einstellungen nicht angefochten (vgl. dort Sachverhalt B.b). Wäre es nicht zu einer Rückweisung gekommen, wäre das Berufungsgericht an das Verschlechterungsverbot gebunden gewesen, weshalb die Rückweisung das Verschlechterungsverbot auch nicht beseitigen konnte. Im vorliegenden Fall hatten die Staatsanwaltschaft und die Privatklägerschaft aber keine Möglichkeit, Anschlussberufung zu erklären, und sie haben auch nicht auf ein Rechtsmittel verzichtet. Daran ändert nichts, dass den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit einzuräumen ist, sich vorgängig zur Frage eines allfälligen Rückweisungsentscheids zu äussern (BGE 143 IV 408 E. 6.1). Denn diese Vorgabe ist nur dem Anspruch auf rechtliches Gehör geschuldet und führt nicht zu einem verbindlichen Verzicht der Staatsanwaltschaft oder der Privatklägerschaft auf eine Anschlussberufung. Dies muss umso mehr gelten, wenn dazu wie hier keine Frist gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO angesetzt worden ist. Die Gewährung des rechtlichen Gehörs dient denn auch in erster Linie der beschuldigten Person, welche Berufung erklärt hat und durch einen Rückzug der Berufung eine allfällige Verschlechterung noch abwenden kann. 

In diesem Zusammenhang verkennt der Beschwerdeführer die Tragweite des Verschlechterungsverbots. Zwar liegt die ratio legis des Verbots der reformatio in peius darin, dass die beschuldigte Person nicht aus Angst vor einer strengeren Bestrafung von der Ergreifung eines Rechtsmittels abgehalten werden soll (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1311 Ziff. 2.9.1; BGE 139 IV 282 E. 2.4.3 mit Hinweisen). Doch übersieht der Beschwerdeführer, dass die beschuldigte Person nicht absolut vor einer Verschlechterung geschützt ist, nur weil sie in Berufung geht. Denn mit der Berufung eröffnet sie den anderen Parteien gerade die Möglichkeit zur Anschlussberufung (Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO). Diese fällt freilich dahin, wenn die Berufung zurückgezogen oder darauf nicht eingetreten wird (Art. 400 Abs. 3 StPO) [E. 2.3, Hervorhebungen durch mich].

Was wäre anders gewesen, wenn die Vorinstanz die anderen Parteien vor dem Kassationsbeschluss vorschriftsgemäss angehört hätte und diese kein Rechtsmittel ergriffen hätten?