Versuchte schwere Körperverletzung c. Unterlassung der Nothilfe

Im Kanton AG soll ein Automobilist einen Streitgegner auf einem Parkplatz erfasst haben. Er habe auf ca. 27 bis 35 km/h beschleunigt und sei anschliessend nach Hause gefahren, ohne dem verletzt auf dem Boden liegenden Gegner Hilfe zu leisten oder die Polizei und Ambulanz zu verständigen. Erstinstanzlich erfolgte ein Freispruch, zweitinstanzlich ein Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Unterlassung der Nothilfe. Das Obergericht AG schickt den Automobilisten für ein Jahr ins Gefängnis.

Vor Bundesgericht stellten sich Fragen zur Verwertbarkeit von Beweisen und zum Verhältnis zwischen der versuchten schweren Körperverletzung und der Unterlassung der Nothilfe (BGE 6B_1037/2023 vom 05.06.2024, Publikation in der AS vorgesehen). Zu prüfen war hier somit, ob der Beschwerdeführer durch die Unterlassung der Nothilfe die Gefahr eines Erfolgseintritts geschaffen hat, der über den von ihm mit der versuchten schweren Körperverletzung in Kauf genommenen Verletzungserfolg hinausgeht. Das Bundesgericht verneint und heisst in dieser Frage gut:

Angesichts der versuchten Tatbegehung hatte der Beschwerdeführer seinen Deliktswillen mit den durch die Kollision geschaffenen Verletzungen nicht erfüllt. Nach der Begehung der versuchten schweren Körperverletzung ist der Beschwerdeführer nicht auch wegen Unterlassung der Nothilfe zu bestrafen, weil der im Versuch geäusserte Wille zur schweren Körperverletzung den Willen zur Unterlassung der Hilfeleistung vorliegend miteinschliesst (vgl. BGE 87 IV 7). Damit ist die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Unterlassung der Nothilfe in der gegebenen Konstellation als eine mitbestrafte Nachtat der versuchten schweren Körperverletzung einzuordnen und die geltend gemachte Verletzung von Art. 128 StGB ist zu bejahen (E. 4.3.3).  

Spannender sind in diesem Fall aber die Ausführungen des Bundesgerichts zur Frage der Beweisverwertung. Die Frage, ob die Aufnahmen des AFV gesetzlich abgestützt waren, lässt das Bundesgericht unter Hinweis auf Art. 141 Abs. 2 StPO offen (im Entscheid ist übrigens von Art. 141 StGB die Rede). Die AFV-Aufnahmen standen nun aber gar nicht zur Verfügung. Das Obergericht stützte sich vielmehr auf einen Polizeirapport, der die Aufnahmen behauptet. Auch das ist nach Bundesgericht unerheblich, zumal die Aufnahme nicht das Hauptbeweismittel gewesen sein sollen (was mir aufgrund der Sachverhaltsdarstellung nun überhaupt nicht einleuchtet):

Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ist die Aufzeichnung nicht als Hauptbeweismittel zu qualifizieren, da sich der dem Beschwerdeführer vorgeworfene Sachverhalt nicht aus der Aufzeichnung, sondern aus den Zeugenaussagen sowie den Aussagen des Beschwerdeführers ergibt. Schliesslich liegt entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers keine Täuschung im Sinne von Art. 140 StPO vor, da nicht die Existenz der Aufzeichnung, sondern die Verletzung der Aktenführungspflicht in Frage steht. Angesichts der fehlenden Aufzeichnung der AFV in den Akten ist die Verletzung der Aktenführungspflicht zu bejahen. Da eine schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO vorliegt (vgl. oben E. 1.4.2), ist hinsichtlich der Verwertbarkeit der Erkenntnisse nicht weiter darauf einzugehen, ob es sich bei der verletzten Aktenführungsvorschrift um eine Gültigkeits- oder Ordnungsvorschrift i.S.v. Art. 141 Abs. 2 bzw. Abs. 3 StPO handelt (vgl. oben E. 2.2.2), da die Erkenntnisse auch nach den Vorgaben von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertbar sind. Aufgrund der dargelegten Umstände erweist sich die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge der Verletzung des Fairnessgebots nach Art. 6 Abs. 1 und Ziff. 3 EMRK als unbegründet (E. 2.3, Hervorhebungen durch mich).  

Wenn ich das richtig sehe, wäre der Beschwerdeführer ohne den AFV ja aber gar nicht identifiziert worden und hätte deshalb auch anders ausgesagt (er glaubte scheinbar, die Aufnahmen lägen der Polizei vor). Aber hier täusche ich mich vielleicht.