Verteidiger als Beistand oder als Vertreter?
Heute stellt das Bundesgericht zwei Entscheide vor, bei denen es um die Wirksamkeit von Erklärungen von Prozessbeteiligten geht. Wirksam ist danach jeweils, was die Justiz entlastet. Dies gilt selbst dann, wenn die Wirksamkeit einer widerrufenen Rückzugserklärung eines psychisch schwer gestörten Beschuldigten, der notwendig amtlich verteidigt ist, zu beurteilen ist:
Dieser Rückzug ist gemäss Bundesgericht rechtswirksam. Der Beschuldigte muss seine mehrjährige Freiheitsstrafe bzw. eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB absitzen, obwohl er schriftlich erklärt hat, er habe beim Rückzug in geistiger Umnachtung gehandelt. Das Bundesgericht wirft dem psychisch schwer gestörten Beschuldigten vor, er habe im Verfahren vor Bundesgericht keinen Willensmangel gerügt. Der amtliche Verteidiger sei zudem nicht Vertreter, sondern Beistand (BGer 6B_790/2015 vom 06.11.2015):
Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, sein Rückzug sei mit einem Willensmangel behaftet gewesen. Er stellt sich vielmehr auf den Standpunkt, ein Rückzug könne nur im Einvernehmen mit dem Verteidiger erfolgen. Dies sei hier nicht der Fall. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde mit Verfügung vom 4. März 2013 von der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau als notwendiger amtlicher Verteidiger eingesetzt (…). Der Verteidiger ist Beistand, Fürsorger und Berater der beschuldigten Person, nicht deren Stellvertreter (E. 3.4).
Manchmal wendet das Bundesgericht bekanntlich das Recht von Amts wegen an. Hier argumentiert es formalistisch, obwohl ja klar ist, dass sich der Beschwerdeführer implizit auf einen Willensmangel berufen hat. Es hat nicht einmal beachtet, dass der Beschwerdeführer psychisch krank sein muss, sonst wäre er ja nicht zu einer kleinen Verwahrung verurteilt worden.
Im zweiten Fall verpasst der Verteidiger die Berufungsfrist. Die Folgen trägt der (vertretene?) Beschuldigte (BGer 6B_778/2015 vom 10.11.2015).
Es wäre der Verteidigung zumutbar gewesen, bei nur zwei aufgegebenen Sendungen zu kontrollieren, ob beide ordnungsgemäss spediert würden, zumal ihr bewusst gewesen sein müsse, dass die Frist an jenem Tage ablief und die Verteidigung für die fristgerechte Aufgabe verantwortlich und beweispflichtig sein würde (E. 2.2).
Hauptsache, die beiden Fälle können von der Geschäftskontrolle abgeschrieben werden.
Fall 1: Zustimmung zum Formalismus. Das Urteil scheitert auch aus einem zweiten Grund, darin steht nämlich:
“Sollte dieser seiner Anweisung keine Folge geleistet haben, ziehe er “die Berufungsanmeldung eigenhändig zurück”” (SV A), und “Falls dieser seiner Anweisung keine Folge geleistet haben sollte, ziehe er die Berufungsanmeldung eigenhändig zurück” (E1.1). Weitere Hinweise auf einen Rückzug der Berufung lese ich im Urteil oder dem vorinstanzlichen Urteil keine.
Ein bedingter Rückzug ist kein Rückzug (5A_811/2014 E5.2). Da gibt es nichts zu deuteln: Die Wörter “Sollte” und “Falls” konditionieren beide Sätze, anderweitige relevante Bekundungen enthält der Urteilstext nicht. Der Beschuldigte hat hier Glück, dass das BGer den absoluten Revisionsgrund nach BGG Art 121 d selbst mitgeliefert hat.
Dass der amtliche Verteidiger (eher) Beistand als Vertreter ist, dürfte schon stimmen. Aber wie könnte er je einen Entscheid an die nächsthöhere Instanz weiterziehen, wenn er nur “Beistand, Fürsorger und Berater” ist? Er müsste ja dann trotz amtlicher Verteidigung eine Vollmacht vom Beschuldigten einholen. Sonst hat er – solange bzw. sofern er von der Rechtsmittelinstanz nicht als amtlicher Verteidiger eingesetzt wird – eigentlich gar kein Recht, für den Beschuldigten zu handeln. Ist er dann Geschäftsführer ohne Auftrag? Das kann ja kaum Sinn der Sache sein.
Meines Erachtens ist der amtliche Verteidiger bzw. zumindest der notwendige amtliche Verteidiger mehr als Beistand. Er darf – ohne Mitwirkung des Beschuldigten – Rechtsmittel erheben, wie der Beschuldigte – ohne Mitwirkung des Verteidigers – Rechtsmittel erheben darf (solange jener nicht umfassend verbeiständet ist). Beide agieren unabhängig von einander. Das bedeutet natürlich, dass der Beschuldigte nicht ein Rechtsmittel zurückziehen kann, das der amtliche Verteidiger erhoben hat, und der amtliche Verteidiger kann kein Rechtsmittel zurückziehen, das der Beschuldigte erhoben hat.
Könnte der Beschuldigte ein Rechtsmittel, das der amtliche Verteidiger erhoben hat, zurückziehen, müsste letzterer für ersteren ja eine umfassende Beistandschaft beantragen, um ihn (bei Bedarf) im Strafverfahren vor sich selbst zu schützen. Allerdings sollte die (notwendige) amtliche Verteidigung ja eigentlich Schutz genug sein – wozu dient sie denn sonst? (Klar, sie enthält auch Beratung, aber wenn die Urteilsfähigkeit des Beschuldigten fraglich ist, bringt jene möglicherweise nichts.)