Verteidigerdilemma / Schuldinterlokut

Das Bundesgericht weist eine Beschwerde ab, in welcher ungenügende Verteidigung geltend gemacht wurde (BGer 6B_172/2011 vom 23.12.2011). Der Beschwerdeführer machte

geltend, seine beiden Verteidiger, von welchen er im erstinstanzlichen Verfahren vertreten worden sei, hätten in ihren Plädoyers vor dem Bezirksgericht Antrag auf vollumfänglichen Freispruch gestellt, ohne für den Fall eines Schuldspruchs – abgesehen von einigen kurzen Bemerkungen – zur Strafzumessung Stellung zu nehmen. Sie seien hiezu vom Bezirksgericht auch nicht aufgefordert worden. Damit sei er im erstinstanzlichen Verfahren ungenügend verteidigt worden (E. 1.1).

Das Bundesgericht äussert sich zunächst in allgemeiner Form zum Verteidigerdilemma und den (damit verbundenen) richterlichen Fürsorgepflichten.

Ein klar fehlerhaftes Prozessverhalten kann auch in einer unterbliebenen oder offenkundig ungenügenden Stellungnahme zu den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft liegen. Grundsätzlich ist aber nicht zu beanstanden, wenn sich die Verteidigung, die ihren Hauptantrag auf Freisprechung nicht mit Ausführungen über das Strafmass für den Fall einer Verurteilung schwächen will (sog. Verteidigerdilemma), in ihrem Plädoyer auf Ausführungen zum Schuldpunkt beschränkt und darauf verzichtet, in einem Eventualstandpunkt zur Strafzumessung Stellung zu nehmen. Dies gilt jedenfalls, wenn der Verzicht auf Ausführungen zum Strafpunkt für alle Verfahrensbeteiligten erkennbar auf einer durchdachten und klar umrissenen Verteidigungsstrategie beruht (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_100/2010 vom 22.4.2010, in: Pra 2010 Nr. 104 S. 708, E. 3.1). Von einer offenkundigen und schwerwiegenden Vernachlässigung der Verteidigerpflichten kann in einem solchen Fall nicht die Rede sein. Das hat zur Folge, dass der Richter nicht eingreifen und den Verteidiger zur Stellungnahme zum Strafpunkt anhalten muss. Denn die richterliche Fürsorgepflicht kann naturgemäss nur dort zum Tragen kommen, wo nicht bloss verteidigungstaktische Fragen zur Diskussion stehen, sondern wo ein eklatanter Verstoss gegen allgemein anerkannte Verteidigerpflichten vorliegt (…). Das Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden aufgrund ihrer Fürsorgepflicht knüpft an eine Pflichtverletzung des Verteidigers an, an welcher es bei dieser Konstellation gerade fehlt (a.M. LIEBER, a.a.O., Art. 128 N 16; LIEBER/DONATSCH, a.a.O., § 11 N 69 FN 155). Der Behörde kann nicht die Verantwortung für jegliches Versäumnis des Verteidigers auferlegt werden (BGE 126 I 194 E. 3d, S. 199). Auch die aus der Aufklärungs- und Fürsorgepflicht abgeleitete richterliche Fragepflicht (vgl. Art. 56 ZPO) besteht nur bei unklaren, mehrdeutigen Äusserungen von Verfahrensbeteiligten (…)[E. 1.3.2].

Aus den Plädoyernotizen konnte geschlossen werden, dass der Verzicht auf eine einlässliche Stellungnahme zur Strafzumessung einer bewusst gewählten Strategie der Verteidigung entsprach (s. dazu E. 1.4).

Das Bundesgericht verneint die gerügte Willkür in Bezug auf das von der Vorinstanz verweigerte Schuldinterlokut. Es weist auf die Bedeutung des Beschleunigungsgebots hin und verneint die besonderen Gründe des Persönlichkeitsschutzes:

Bei der Prüfung, ob die Hauptverhandlung in zwei Abschnitte zu gliedern ist, sind die im konkreten Fall bestehenden Gründe, die für und gegen eine Aufteilung sprechen, gegeneinander abzuwägen. Dabei nimmt die Vorinstanz zu Recht an, angesichts der langen Verfahrensdauer seien weitere Verzögerungen tunlichst zu vermeiden, um nicht dem Beschleunigungsgebot zuwider zu laufen. Zudem ist nicht ersichtlich, dass beim Beschwerdeführer besondere Gründe des Persönlichkeitsschutzes gegen eine Befragung zur Person in der öffentlichen Verhandlung schon vor einem allfälligen Schuldspruch sprächen. Namentlich liegt nicht etwa ein psychiatrisches Gutachten vor, dessen Ergebnisse erörtert werden müssten. Dass der Beschwerdeführer durch den Verzicht auf ein Schuldinterlokut damit in die Lage versetzt wurde, in einem Eventualstandpukt Ausführungen zu den Folgen eines Schuldspruchs zu machen, trifft zu. Doch gehören Eventualanträge zum Prozessalltag und schwächen bei geeigneter Formulierung den Hauptantrag nicht (…). Im Übrigen fragt sich, ob die Rüge des Beschwerdeführers, er werde durch die Verweigerung der Zweiteilung des Verfahrens gezwungen, durch Ausführungen zur Strafzumessung seine Verteidigungsposition zu schwächen, nicht in einen gewissen Widerspruch zu seinem Standpunkt gerät, das Gericht verletze seine Fürsorgepflicht, wenn es die Verteidigung nicht zur Stellung von Eventualanträgen zu eben diesem Strafpunkt auffordere (E. 2.4, Hervorhebungen durch mich).

Da steh ich nun, ich armer Tor! und bin so klug als wie zuvor.