Verteidigung hinter der Strafprozessordnung
Es gibt Strafverteidiger (und Anwälte, die Strafverteidigung praktizieren), die auf Kooperation mit der Staatsanwaltschaft setzen. Das lohnt sich bisweilen für den Klienten, der milder bestraft wird, und für den Anwalt, dem weitere amtliche Mandate offeriert werden und die Strafverteidigung daran üben kann. In einem korrupten Strafverfolgungssystem ist ein solches Verteidigerverhalten vielleicht sogar geboten, zumal es dem Klienten ja dienen könnte.
In einigen Kantonen der Schweiz kommen wir solchen Zuständen schon recht nahe. Das liegt u.a. daran, dass die Staatsanwälte die Verteidiger auswählen und dabei im Zweifel wohl eher nicht Gegner wählen, die auf die Wahrung der als kontraproduktiv empfundenen Teilnahmerechte pochen. Für den Kanton Aargau hält glücklicherweise das Bundesgericht dagegen, wie es in einem neuen Urteil (BGer 1B_297/2015 vom 26.10.2015) demonstriert. Es wirft dem Obergericht vor, Art. 134 Abs. 2 StPO verletzt zu haben:
In seiner Stellungnahme vom 12. August 2015 schreibt [der bisherige amtliche Verteidiger], das Bundesgericht habe das obergerichtliche Urteil aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben. Er selbst vertrete in strafprozessualer Hinsicht die gleiche Rechtsauffassung wie das Obergericht. Über die Auslegung einer umstrittenen strafprozessualen Norm könne man mit Fug und Recht geteilter Meinung sein. Dies trifft jedoch nicht mehr zu, wenn ein höchstrichterliches Urteil diese Frage geklärt hat. Mit dieser Argumentation übersieht er zudem, dass die Bedeutung der Teilnahmerechte, soweit sie im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind, vom Bundesgericht im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung bereits geklärt worden war. Das Obergericht setzte sich im Urteil betreffend den Beschwerdeführer mit der Frage der Verletzung von Teilnahmerechten überhaupt nicht auseinander, dies offenbar deshalb, weil der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren eine Verletzung von Teilnahmerechten nicht ausdrücklich gerügt hatte (Urteil 6B_450/2014 vom 18. Mai 2015 E. 1.2).
Von seiner Auffassung, welche zu Ungunsten seines eigenen Mandanten von der in BGE 139 IV 25 begründeten und seither bestätigten (Urteil 1B_404/2012 vom 4. Dezember 2012 E. 2.1) bundesgerichtlichen Rechtsprechung abweicht, hat sich der amtliche Verteidiger bisher nicht distanziert. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass sich der Beschwerdeführer nicht mehr effektiv vertreten fühlt. Daran ändert nichts, dass der amtliche Verteidiger beteuert, seinem Klienten voll zu vertrauen und stets davon ausgegangen zu sein, er sei zu Unrecht als Drahtzieher und Kopf der Bande verurteilt worden. Es stellt keinen Widerspruch dar, für die Unschuld seines Mandanten zu plädieren und gleichzeitig darüber zu wachen, dass dessen Verfahrensrechte eingehalten werden. Dasselbe gilt für das Bestreben von Rechtsanwalt B., mit der Staatsanwaltschaft ein gutes Einvernehmen zu pflegen.Das Obergericht hat mit Beschluss vom 27. Mai 2015 angekündigt, zunächst der Staatsanwaltschaft und dann dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äussern, welche Beweismittel sie (noch) als verwertbar ansehen und von welchem Sachverhalt dementsprechend auszugehen sei. Die Bedeutung der Verletzung der Teilnahmerechte ist aus diesem Grund weiterhin von praktischer Bedeutung. Hat der amtliche Verteidiger es bis anhin unterlassen, sich für deren Umsetzung zu engagieren, und bringt er weder in seiner Vernehmlassung zu Handen der Vorinstanz noch im Verfahren vor Bundesgericht zum Ausdruck, seine Strategie ändern zu wollen, erscheint eine wirksame Verteidigung nicht mehr gewährleistet. Die Rüge der Verletzung von Art. 134 Abs. 2 StPO ist deshalb begründet (E. 2.6, Hervorhebungen durch mich).
Der Entscheid des Bundesgerichts ist in meinen Augen mutig und richtig. Etwas amüsiert hat mich – isoliert betrachtet – die (wohl ungewollt) arrogant wirkende Passage: „Über die Auslegung einer umstrittenen strafprozessualen Norm könne man mit Fug und Recht geteilter Meinung sein. Dies trifft jedoch nicht mehr zu, wenn ein höchstrichterliches Urteil diese Frage geklärt hat.“