Verteidigungsrechte? Nicht für einen Mörder!

Einen gelinde gesagt erstaunlichen Entscheid fällt das Bundesgericht auf Beschwerde eines im Kanton Aargau wegen Mordes verurteilten Jugendlichen (BGer 6B_89/2014 vom 01.05.2014). Fragwürdige Verhörmethoden, ein Geständnis während der Ferienabwesenheit des Verteidigers, Mandantenverrat und andere bedenkliche Unzulänglichkeiten waren es dem Bundesgericht nicht einmal Wert, dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen.

Der Beschwerdeführer hatte nach Auffassung des Bundesgerichts auf das Beisein seines Verteidigers verzichtet, obwohl er zu Beginn sogar ausdrücklich nach seinem Anwalt verlangt hatte:

Im Umstand, dass der Beschwerdeführer vor seinem Geständnis ein Gespräch mit seinem Verteidiger oder seinen Eltern wünschte und ihm dieses nicht gewährt wurde, ist entgegen seiner Auffassung keine Verletzung seiner Verteidigungsrechte zu erblicken.

Für den Beschwerdeführer stand offenbar nicht im Vordergrund, mit seinem Anwalt, sondern vielmehr mit seinen Eltern zu sprechen. Gemäss Protokoll vom 16. Juli 2010 sagte er: „Angenommen, ich würde ein Geständnis ablegen, ist es möglich, dass ich vorher mit meinen Eltern und dem Anwalt oder nur mit meinen Eltern sprechen könnte?“ (…). Der ermittelnde Polizist informierte über die Ferienabwesenheit seines Anwalts und meinte, ob es nicht besser wäre, gleich ein Geständnis abzulegen. Seine Eltern könnten danach informiert werden. Daraufhin erklärte der Beschwerdeführer: „Nein, ich möchte mit meinen Eltern vorgängig reden.“
Dass die Einvernahme in diesem Moment nicht abgebrochen und erst fortgesetzt wurde, nachdem der Beschwerdeführer mit seinen Eltern hatte sprechen können, ist zwar fragwürdig. Seine Verteidigungsrechte berührt es allerdings nicht. Der Beschwerdeführer wusste im entscheidenden Moment, dass sein Verteidiger in den Ferien weilte und auch in den nächsten Tagen an keiner Einvernahme anwesend sein könnte. Der Polizei gegenüber bestätigte er trotzdem, nach einer Unterredung mit seinen Eltern ein Geständnis abzulegen. Dass er mit seinen Eltern sprechen möchte und weitere Details zur Tat erst danach bekannt geben werde, äusserte er im Verlauf seiner Einvernahme noch mehrmals. Ein Gespräch mit seinem Anwalt verlangte er hingegen während der gesamten Befragung nicht mehr (vgl. act. 1499 ff.). Unter diesen konkreten (sich von jenen im Urteil 6B_725/2011 vom 25. Juni 2012 E. 2.3 unterscheidenden) Umständen darf aus dem Verhalten des Beschwerdeführers ein bewusster Verzicht auf das Beisein seines Verteidigers abgeleitet werden (vgl. BGE 131 I 350 E. 4.3.2). Da er zu diesem Zeitpunkt bereits anwaltlich vertreten war, darf auch davon ausgegangen werden, die Konsequenzen seines Aussageverhaltens seien ihm ausreichend bekannt gewesen. Dafür spricht zusätzlich die spätere umfassende Wiederholung seines Geständnisses im Beisein seines Verteidigers (E. 1.4.4).
Dass sich der ermittelnde Polizist nicht korrekt verhielt, erkennt zwar auch das Bundesgericht. Darin liege aber noch keine Verletzung der Verteidigungsrechte:
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte darin sieht, dass sein Geständnis Folge einer suggestiven Fragestellung des ermittelnden Polizeibeamten war, ist einzuräumen, dass dessen Vorgehensweise nicht korrekt war (vgl. auch vorne E. 1.4.4). Allerdings vermag sie keine Verletzung der Verteidigungsrechte zu begründen. Das Verbot von Suggestivfragen ist als Ordnungsvorschrift ausgestaltet, weshalb Antworten trotz suggestiver Frageweise grundsätzlich verwertbar sind. Der Art, wie sie erlangt wurden, ist bei der Würdigung der entsprechenden Aussagen Rechnung zu tragen (…) [E. 1.4.5].

Die meisten Befragungen fanden offenbar in Abwesenheit der Verteidigung statt. Auch das ist letztlich nicht zu beanstanden:

Dass sein ehemaliger Anwalt auf die Teilnahme an mehreren Einvernahmen verzichtete, erfolgte jeweils mit seinem Einverständnis (vgl. vorne E. 1.3.2). Es gibt keine Hinweise, dass der Beschwerdeführer die Anwesenheit seines Verteidigers verlangt hätte. Dieser versäumte weder Fristen noch Termine, und es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass er sich auf die Einvernahmen, an denen er teilnahm, nicht sorgfältig vorbereitet hätte. Insbesondere kann nicht als dahingehendes Indiz gewertet werden, dass er keine Ergänzungsfragen stellte, da dies auch aus verteidigungstaktischen Gründen geschehen kann. Ein offensichtlich fehlerhaftes Verhalten des ehemaligen Verteidigers ist in diesem Zusammenhang nicht erkennbar (E. 1.5.1).

Nicht einmal Klientenverrat reichte zur Feststellung von Rechtsverletzungen:

Selbst wenn der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers mit seiner Berichterstattung gegenüber der Jugendanwaltschaft über seine Mandantengespräche das Anwaltsgeheimnis verletzt haben sollte, wären diese Verstösse nicht als derart schwerwiegend einzustufen, dass die Behörden zum Eingreifen verpflichtet gewesen wären. Die der Jugendanwaltschaft rapportierten Gesprächsinhalte waren relativ unverfänglich und enthielten keinerlei Details zur eigentlichen Verteidigungsstrategie oder zum Tathergang. Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, sie seien geeignet gewesen, den Verlauf der Untersuchung zu beeinflussen und eine Voreingenommenheit der Ermittlungsbeamten zu bewirken. Inwiefern dies tatsächlich der Fall gewesen sein soll, zeigt er allerdings nicht auf und ist nicht ersichtlich. Die allfällige Berufsgeheimnisverletzung an sich ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens (E. 1.5.2).

Der Beschwerdeführer beschwerte sich auch über das ungenügende Plädoyer seines damaligen Verteidigers:
Sein Plädoyer habe lediglich siebeneinhalb Seiten umfasst und sei mündlich an einigen Stellen ergänzt worden. Auf einer halben Seite habe er sich mit dem Hauptantrag (Freispruch) befasst und unter dem Titel „Standpunkt des Angeklagten“ habe er festgehalten, dass dieser den Sachverhalt bestreite und auf seine ersten Aussagen gegenüber der Polizei verweise. Sodann habe er vier Argumente des Beschwerdeführers vorgebracht, ohne diese abzuwägen oder den Darstellungen der Jugendanwältin gegenüberzustellen. Das restliche Plädoyer habe sich auf die rechtliche Würdigung und die Strafzumessung beschränkt (E. 1.5.3).

Diese Rüge kontert das Bundesgericht wie folgt:

Allein der Umfang eines Plädoyers sagt nichts darüber aus, ob Verteidigerpflichten korrekt oder mangelhaft wahrgenommen werden. Den Behörden kann keine Verletzung ihrer Fürsorgepflicht vorgeworfen werden. Der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers verfolgte eine nachvollziehbare Strategie. So vertrat er in der Hauptsache dessen Standpunkt mit den entsprechenden Argumenten, stellte anschliessend aber gleichwohl begründete Eventualanträge, damit sein Mandant auch im Falle eines Schuldspruchs möglichst gut gestellt wäre. Unklarheiten oder mehrdeutige Äusserungen gab es keine, zu deren Klärung die Behörden verpflichtet gewesen wären. (E. 1.5.3).

Ein solches Urteil kann nach meiner Beurteilung nur praktisch, nicht aber juristisch erklärt werden. Die Bundesrichter waren offensichtlich von der Täterschaft des Beschwerdeführers überzeugt. Und das Jugendstrafrecht ist ohnehin zu milde. Entsprechend kurz hält das Bundesgericht den Sachverhalt fest, der im Volltext wie folgt lautet:

Gemäss Anklage erschlug X am 7. August 2009 F mit einem Holzscheit, weil sie ihm lästig fiel und er von ihrem Gerede genug hatte. Anschliessend nahm er diverse persönliche Gegenstände des Opfers an sich.

So einfach kann Rechtsprechung sein.