Verwässertes Anklageprinzip

Einem neuen Bundesgerichtsentscheid (BGer 6B_5/2010 vom 30.06.2010) ist folgender Satz zu entnehmen:

Die zeitliche Erweiterung des Anklagesachverhalts durch das Obergericht verstösst nicht gegen den Anklagegrundsatz (E. 2.6.4).

Zwei Sätze vorher steht dagegen, der fragliche Zeitraum sei

als angeklagt zu betrachten (E. 2.6.4).

Die beiden Zitate schliessen sich wohl nicht gerade aus, aber die Verteidigung konnte die Erweiterung des Anklagesachverhalts ja erst dem Urteil entnehmen. Das hat das Bundesgericht aber nicht daran gehindert, folgendes Ergebnis festzuhalten:

Die Argumentation des Beschwerdeführers, er habe die vor dem 25. Mai 2005 datierenden Vorwürfe aus der Anklageschrift nicht erkannt., erweist sich als unbegründet.

Die Tendenz, das Anklageprinzip langsam wieder zurückzuentwickeln, ist gefährlich. Sie führt dazu, dass Ungenauigkeiten in der Anklage die Verteidigung massiv erschweren und schürt den Eindruck vieler Angeklagter, nicht von unabhängigen Richtern beurteilt zu werden, sondern von Strafverfolgern. Das Gefährlichste ist aber, dass die Ankläger ihre Anklagen wieder weniger präzise fassen werden und damit mögliche Fehlurteile begünstigen. Wem damit gedient sein soll, kann ich mir nicht vorstellen.