Verweigerte Entsiegelung nach Endentscheid wieder anfechtbar?
In einem Strafverfahren im Kanton BS wurde ein USB-Stick sichergestellt, der die gespiegelten Daten des Mobiltelefons des Beschuldigten enthielt. In Bezug auf diesen Datenträger wird das ZMG das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft ab und verfügte, dieser USB-Stick bleibe endgültig versiegelt.
Das Bundesgericht tritt auf eine dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft mangels nicht wieder gutzumachenden Nachteils nicht ein (BGer 1B_314/2021 vom 27.07.2021) und schiebt dann folgende klarstellende Erwägung nach:
Klarzustellen bleibt Folgendes: Ist die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 BGG nicht zulässig, so ist der betreffende Zwischenentscheid gemäss Art. 93 Abs. 3 BGG durch Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, soweit er sich auf dessen Inhalt auswirkt. Die Beschwerdeführerin kann somit den vorinstanzlichen Entscheid gegebenenfalls mit Beschwerde gegen den Endentscheid anfechten. Die Vorinstanz darf deshalb die gespiegelten Daten des Mobiltelefons des Beschwerdegegners noch nicht löschen, sondern muss sie bis zum Abschluss des Strafverfahrens aufbewahren (vgl. zum Ganzen Urteil 1B_298/2020 vom 17. März 2021 E. 1.5) [E. 1.6].
Diese “Klarstellung” stand bereits im Urteil 1B_298/2020, zu dem ich mich hier bereits geäussert habe. Sie mag nach BGG korrekt sein, ist aber mit der StPO nicht vereinbar. Das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft wurde rechtskräftig abgewiesen und der Stick bleibt “endgültig versiegelt”. Mich würde interessieren, mit welcher Begründung die Staatsanwaltschaft in der Beschwerde (und vorher noch in der Berufung?) die Entsiegelung durchsetzen könnte. Die bundesgerichtliche “Klarstellung” ist und bleibt eher das Gegenteil. Ich halte sie für gesetzeswidrig.
Ja wenn sich die gewünschten Daten dann doch nicht in den anderen Datensammlungen gefunden werden konnten, dann darf man davon ausgehen das ein Freispruch entsprechend dann Anfechtbar ist wegen der abgewiesenen Entsiegelung schliesslich hätte man ja genau dort dann doch noch Beweise finden können.
Geht dies auch umgekehrt? Also wenn der Beschuldigte dann Schuldig gesprochen wird, kann er dann die Entsiegelung (die hier gutgeheissene) auch nochmals Anfechten und den Entsiegelungsentscheid in Frage stellen, womit die Verwertbarkeit der Beweise dann in Frage gestellt wäre ?
Ich sehe diese praxis nicht als gesetzeswidrig an. Das entsiegelungsgericht entscheidet gemäss 248 abs. 3 stpo zwar “endgültig”. Damit ist aber nur gemeint, dass kein rechtsmittel nach der stpo, namentlich die beschwerde, gegeben ist. Rechtsmittel nach bgg sind sehr wohl noch gegeben. Unmittelbar nach dem entsigelungsentscheid ist die rechtsmittelmöglichkeit zwar eingeschränkt (zwischenentscheid). Gemäss 93 abs. 3 bgg ist die beschwerde gegen solche entscheide im rahmen einer beschwerde gegen den endentscheid aber ausdrücklich zulässig. M.a.W. sind zwischenentscheide immer nur vorläufig (formell) rechtskräftig, sie können auch später noch (mitunter jahre später) noch überprüft resp. aufgehoben werden.
@Zwischenentscheid: Ja klar, endgültig nach StPO. Und ja, das heisst, dass die BGG-Beschwerde möglich ist. Die wurde ja auch geführt und verloren. Wieso soll das einer vorläufigen formellen Rechtskraft (??) führen? Was wäre, wenn die Beschwerde gar nicht geführt worden wäre? Was wäre, wenn das ZMG das Entsiegelungsgesuch abgewiesen und die Datenträger (wie üblich) zurückgegeben hätte? und wie würde die Staatsanwaltschaft die beantragte Entsiegelung bspw. nach einem erstinstanzlichen Freispruch im Berufungsverfahren geltend machen? Muss die StA in Berufung, nur um dann später ans Bundesgericht gehen zu können?
@kj. Erste beiden fragen: wenn von der beschwerde unmittelbar nach dem zwischenentscheid kein gebrauch gemacht wurde, schadet das nicht. man kann den zwischenentscheid trotzdem in der beschwerde gegen den endentscheid anfechten, ausdrücklich so vorgesehen in 93 abs. 3 bgg. Mit formeller rechtskraft meine ich, dass der entsiegelungsentscheid nach ablauf der rechtsmittelfrist oder wenn das rechtsmittel, wie hier, unzulässig war, nicht mehr gegenstand eines eigenständigen rechtsmittels sein kann. Er kann aber im rahmen der beschwerde gegen den endentscheid erneut aufgegriffen und thematisiert und insoweit einer materiellen prüfung zugeführt werden. Insofern gilt er im prinzip nur vorläufig und kann später noch materiell überprüft werden (darum nur formelle, nicht aber materielle rechtskraft). Dritte frage: aus diesem grund lässt das bg die beschwerde, soweit ich weiss, zu, wenn die STA einen empfindlichen beweisverlust geltend macht. Genau damit sie nicht auf die schwierigkeiten stösst, welche Sie in den letzten beiden fragen thematisieren.
@Zwischenentscheid: danke. Ja, das leuchtet mir ein.
@kj. nachtrag: tatsächlich müsste die STA die ordentlichen rechtsmittel durchlaufen, wenn sie doch noch den entsiegelungsentscheid durch das bg überprüft haben möchte. Falls tatsächlich kein empfindlicher beweisverlust eintritt (was der grund für die unzulässigkeit der beschwerde gegen den zwischenentscheid war) ist aber fraglich, ob es überhaupt dazu kommt, denn der zwischenentscheid ist auch im rahmen der beschwerde gegen den endentscheid nur anfechtbar, soweit er sich auf dessen inhalt auswirkt.
Ein Entsiegelungsentscheid ist nun mal per defitionem ein Zwischenentscheid und kann als solcher vom Sachrichter umgestossen werden.
Auch ein Beschuldigter kann vor dem Sachrichter noch einmal geltend machen, dass z.B. die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Durchsuchung nicht erfüllt waren oder die Geheimnisrechte vorgehen. Alles andere wäre auch sehr bedenklich, wenn z.B. ein Entsiegelung gutgeheissen wird, nur weil das Siegelungsbegehren verspätet war (falsch, aber kommt regelmässig vor).
Praktisch geht es nicht wirklich auf, aber das dürfte hier eher für die Staatsanwaltschaft ein Problem zu sein. Wenn die Beweise aus den entsiegelten Unterlagen nicht ausreichen um Anklage zu erheben, wie soll dann die Entsiegelungsfrage noch einmal einem Sachrichter unterbreitet werden?
Das ganze ist für einen Laien sehr technisch und kommt wohl nur selten vor, weil diese Entsiegelungsgeschichte sowohl beim StA wie beim Verteidiger zu einem grossen Aufwand führt … für mich stellt sich jetzt folgende Frage:
Wieso betreibt die StA so einen grossen Aufwand um die Daten zu entsiegeln? Hat da etwa jemand von der Polizei schon mal vorsorglich reingeschaut oder macht sich der Beschuldigte per se verdächtig, wenn er beschlagnahmte Gegenstände versiegeln lässt?
@Marco von Salis: StA sind datenhungrig und da kommt so ein Smartphone gerade richtig. Mindestens ein paar Zufallsfunde wird man schon machen.
@kj Die StA machen das einfach so auf gut Glück oder in der Hoffnung, doch was zu finden?
Das glaube ich nicht, meine Theorie:
1. Die Daten sind nicht verschlüsselt = die StA oder die beschlagnahmenden Polizisten schauen sich das Material an. StA wird sogleich aufgrund der “Entdeckungen/Feststellungen etc.” weitere Schritte in die Wege leiten und später – jedoch innert Frist – entscheiden ob die Daten benötigt werden falls ja wird eine Entsiegelung verlangt.
2. Die Daten sind verschlüsselt = die StA kann sich das Material nicht anschauen ohne Gefahr zu laufen, dass es rauskommt oder etwas beschädigt wird.
Der normal Bürger ist der Meinung die Strafverfolgungsbehörden operieren im Rahmen der Gesetzte, dies geschieht praktisch nur in jenen Fällen wo keine Strafuntersuchung eröffnet, diese nicht an die Hand genommen oder eingestellt wird in den restlichen Fällen wird im grau Bereich operiert um da mitzukommen braucht es einen guten Verteidiger sonst ist der Beschuldigte zum Vorneherein am Arsch.
Muss mich gleich selbst korrigieren auch das Nichteröffnen einer Strafuntersuchung, eine Nichtanhandverfügung und eine Einstellungsverfügung können rechts- und gesetzwirdig oder EMRK-widrig sein, da ein einzelner Staatsanwalt (1-Person-Gericht) kein korrekt zusammengestelltes Gericht ist.
Die Bemerkung des Bundesgerichts ist einmal mehr der Versuch, sich die Strafprozessordnung nach eigenem Gusto umzubauen und das genau so falsch wie beim Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft.
Ausgangspunkt ist doch, dass gespiegelte Daten nur ein Surrogat des eigentlich sichergestellten Datenträgers sind (Handy, Server, Harddisks etc.) beschlagnahmten, dies aus Verhältnismässigkeitsgründen, damit der Inhaber mit den bisherigen Daten weiter arbeiten kann. Somit sind diese Surrogate gleich zu behandeln wie wenn es um den ursprünglichen Datenträger ginge.
Nach Art. 248 Abs. 2 StPO müssen die Gegenstände der betroffenen Person zurückgegeben werden, wen nicht innert 20 Tagen ein Entsiegelungsgesuch gestellt wird. Nichts anderes kann gelten, wenn das Entsiegelungsgesuch vom ZMG abgelehnt wird, weil das Gesetz für diesen Fall keine Bestimmung enthält, somit 248 Abs. 2 analog angewendet werden muss, d.h. vom Sinn und Zweck der Bestimmung her und das kann nur heissen, dass bei Abweisung durch das ZMG die Gegenstände zurückgegeben werden müssen.
Aus dieser Überlegung heraus hat die Staatsanwaltschaft sehr wohl ein Beschwerderecht ans Bundesgericht, da ein nicht wiedergutzumachender Nachteil droht, weil der zurückzugebende Gegenstand vom Inhaber bspw. vernichtet werden kann und dann die dort vorhandenen Daten unwiderruflich verloren sind.
Das Bundesgericht argumentiert pro domo und einzig zur Arbeitsvermeidung: es befürchtet, zur zweiten Instanz im Entsiegelungsverfahren zu werden, was es eben nicht will, weshalb es den nicht wiederzugutmachenden Nachteil verneint, da die StA ja (faktisch) jederzeit auf das Entsiegelungsverfahren zurückkommen könne bei der Anfechtung des Endentscheides, also bspw. im Berufungsverfahren. Nun hat das Bundesgericht wiederum nicht über die eigene Nasenspitze hinaus gedacht: wenn die StA im Berufungsverfahren rügt, das ZMG habe falsch entschieden, was soll dann das Berufungsgericht machen? Den ZMG-Entscheid inhaltlich überprüfen? Das verstiesse wohl gegen die Bestimmung, dass der ZMG-Entscheid innerkantonal endgültig ist. Somit könnte die StA das erst in der Strafrechtsbeschwerde gegen den Berufungsentscheid vorbringen. Prüft dann das BGer. vorfrageweise, ob der ZMG-Entcheid richtig war? Und falls es zum Schluss kommt, dass dem nicht so ist, was ist dann die Folge? Rückweisung der ganzen Sache an die StA zur neuen Untersuchung unter Einbezug der nun zu entsiegelnden Daten? Das kann ja nicht ernsthaft gemeint sein.
Es zeigt sich, dass die Behauptung des BGer.,. die sichergestellten Daten müssten bei den Akten bleiben, einzig dazu dient, den nicht wiedergutzumachenden Nachteil zu verneinen und ablehnende Entsiegelungsentscheide nicht überprüfen zu müssen. Dabei bleibt ausser Acht, dass die nicht entsiegelten Daten nach Auffassung des BGer. ja sichergestellt bleiben müssen (nicht beschlagnahmt, da ja noch nicht durchsucht) und dass diese “fortgesetzte” Sicherstellung eine Zwangsmassnahme darstellt, die gerichtlich muss überprüft werden können, und diese Überprüfung durch das ZMG ja gerade ergibt, dass die Sicherstellung nicht rechtens ist, weil keine Durchsuchung erfolgen darf. Wie gesagt, aus dem Umstand, dass das Surrogat zur Diskussion steht, kann für den Inhaber keine Verschlechterung erfolgen, sondern diese ist gleich zu behandeln, wie wenn es Original sichergestellt wäre. Und wenn man das unter dem Blickwinkel “Original” betrachtet, das trotz Entsiegelung sichergestellt bleibt, dann müsste der Inhaber gegen diese “fortgesetzte Sicherstellung” beim Bundesgericht Beschwerde einlegen können (obwohl er ja im Entsiegelungsverfahren obsiegt hat!!), da die weiterdauernde Vorenthaltung der sichergestellten Daten seine Grundrechte verletzt.
Wenn sich dennoch auf den Standpunkt stellen will, Surrogate seien anders zu behandeln als sichergestellte Originale, dann würde sich jeder Beschuldigte einen Nachteil einhandeln, wenn er der Spiegelung der Daten zustimmt.
Und etwas anders noch: wenn die StA im späteren Verlauf des Verfahrens immer noch die Unrichtigkeit des Entsiegelungsentscheids des ZMG einwenden kann, dann muss der Betroffene ja dasselbe tun können und jederzeit im Verfahren einwenden können, der Entscheid des ZMG, den Datenträger zu entsiegeln, sei falsch gewesen. Gerade das zeigt aber, dass diese nachträgliche Möglichkeit, die Richtigkeit des ZMG-Entscheides vorfrageweise im späteren Verlauf des Verfahrens wieder aufwerfen zu können, zu unsinnigen Resultaten führt und dem Zweck des Siegelungsverfahrens zuwider läuft: nämlich im Vorverfahren bereits Klarheit zu schaffen, ob nun durchsucht werden darf oder nicht, und zwar endgültig. Alles andere führt zu unlösbaren Problemen.