Verwertungsverbot abhängig vom Verfahrensstadium
Ein Zwangsmassnahmengericht im Kanton AG hat ein Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft mangels rechtskonformer Durchführung der Siegelung abgewiesen, soweit es darauf eintrat. Es ging um das Smartphone eines anwaltlich nicht vertretenen tatverdächtigen Fussballfans, der an einer Auseinandersetzung mit einer anderen Fangruppe beteiligt gewesen sein soll (mehrfache einfache Körperverletzung, Angriff und Nötigung). Anlässlich einer Einvernahme hat der Fussballfan die Siegelung seines Smartphones beantragt, weil es privat sei. Den Entsperrungscode gab er nicht preis. Die Siegelung erfolgte, indem die Polizei das Gerät in einen wieder verschliessbaren Plastikbeutel steckte.
Das Bundesgericht eilt der Staatsanwaltschaft zu Hilfe und kassiert den Entscheid des ZMG. Der Fussballfan war auch im bundesgerichtlichen Verfahren nicht vertreten (BGer 1B_412/2021 vom 29.11.2021).
Das Bundesgericht stellte zunächst fest, es liege zwar eine ungenügende, entgegen der Auffassung des ZMG jedoch keine gänzlich unterlassene bzw. verweigerte Siegelung vor, denn das Gerät konnte ja ohne Kenntnis des Codes nicht durchsucht werden. Dann reitet es auf den Versäumnissen des nicht vertretenen Fussballfans herum (E. 2.2.2). Seine Erwägungen fasst es wie folgt zusammen:
Zusammengefasst liegt ein strafprozessualer Verfahrensfehler, der ohne Weiteres die Unverwertbarkeit der gespeicherten Mobiltelefondaten zur Folge hätte, nicht klar auf der Hand. Vielmehr wird praxisgemäss erst das Sachgericht (Art. 339 Abs. 2 lit. d StPO) bzw. die den Endentscheid verfügende Strafbehörde (im Rahmen der gesamten Beweisergebnisse) in Anwendung von Art. 141 Abs. 1-5 StPO über die Bedeutung und Verwertbarkeit der mangelhaft gesiegelten Mobiltelefondaten zu entscheiden haben (vgl. vorne E. 3.1; vgl. auch Urteile 1B_443/2018 vom 28. Januar 2018 E. 3.2; 1B_241/2008 vom 26. Februar 2009 E. 5.2-5.4; DAMIAN GRAF, Aspekte der strafprozessualen Siegelung, Aktuelle juristische Praxis [AJP] 2017, S. 566). Demnach hat das ZMG Bundesrecht verletzt, als es feststellte, hinsichtlich der mangelhaft gesiegelten Mobiltelefondaten liege ein (bereits im Untersuchungsverfahren durchzusetzendes) strafprozessuales Verwertungsverbot vor, und es deshalb das Entsiegelungsgesuch abwies. Die Beschwerde erweist sich damit als begründet. Die Sache wäre somit grundsätzlich zu Neubeurteilung des Entsiegelungsgesuchs an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Hinblick auf das strafprozessuale Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 1 StPO) ist jedoch zu prüfen, ob das Bundesgericht die Entsiegelung direkt bewilligen kann (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG; vgl. auch Urteile 1B_102/2020 vom 8. März 2021 E. 2.4; 1B_517/2012 vom 27. Februar 2013 E. 6) [E. 3.4, Hervorhebungen durch mich].
Das Bundesgericht ist sich dann auch nicht zu schade, die Entsiegelung gleich selbst anzuordnen. Ob der Fussballfan überhaupt rechtswirksam über das Siegelungsrecht und die damit verbundenen Mitwirkungsobliegenheiten aufgeklärt wurde, interessiert das Bundesgericht nicht:
Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich beim Beschwerdegegner um einen juristischen Laien handelt, legte er im vorinstanzlichen Verfahren hinsichtlich der als Beweismittel in Frage kommenden Mobiltelefondaten keine schutzwürdigen privaten Geheimnisrechte dar. Auch im bundesgerichtlichen Verfahren äusserte er sich hierzu nicht. Zwar erwähnte er anlässlich seiner polizeilichen Einvernahme, sein Mobiltelefon “sei privat”. Er benennt allfällige gesetzlich geschützte Geheimnisrechte jedoch nicht näher und kam damit der ihm obliegenden Mitwirkungs- und Substanziierungsobliegenheit im Entsiegelungsverfahren nicht nach. Entsiegelungshindernisse in der Form von privaten Geheimnisrechten liegen damit nicht vor. Auch den vom ZMG bejahten dringenden Tatverdacht (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO) bestreitet der Beschwerdegegner nicht. Die Untersuchungsrelevanz des sichergestellten Mobiltelefons ist ebenfalls zu bejahen (vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO; vgl. auch Urteil 1B_256/2021 vom 22. Juli 2021 E. 3). Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Entsiegelungsgesuch und vor Bundesgericht insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass sich auf dem sichergestellten Mobiltelefon Aufzeichnungen befinden könnten, die insbesondere Hinweise auf den Tathergang, mögliche Absprachen mit den Mitbeschuldigten und auf zwei bisher nicht identifizierte Mitbeschuldigte liefern könnten. Es kann somit angenommen werden, dass sich auf den gespeicherten Telefondaten mit rechtsgenügender Wahrscheinlichkeit untersuchungsrelevante Informationen befinden. Die gesetzlichen Entsiegelungsvoraussetzungen sind damit erfüllt. Das Entsiegelungsgesuch ist folglich spruchreif und kann bewilligt werden. Das sichergestellte Mobiltelefon kann zur Durchsuchung freigegeben werden. Nach erfolgter Sichtung des Mobiltelefons werden jene Aufzeichnungen, welche sich für das Verfahren als nicht relevant erweisen, aus den Verfahrensakten auszuscheiden sein (E. 4.2).
Die Siegelung ist ein rechtlicher, kein physischer Vorgang. Was überhaupt daran mangelhaft sein soll, das Telefon in einen Plastiksack zu stecken, ist völlig unersichtlich. Richtigerweise muss es schon allein aus forensischen Gründen sogar weiter mit Strom versorgt werden.
Die Gerichte zeigen hier vor allem ihre technische Ignoranz. Einmal mehr. Man verliert allmählich die Hoffnung…
Da haben Sie völlig recht, übersehen aber, dass dieser Blog von einem Verteidiger geführt wird, der grundsätzlich jegliche Möglichkeit begrüsst, den Gang des Verfahrens aufzuhalten, was ja schon seine völlig an den Tatsachen vorbeigehende Bemerkung beweist, es interessiere das BGer offenbar nicht, ob der Hool “überhaupt rechtswirksam über das Siegelungsrecht und die damit verbundenen Mitwirkungsobliegenheiten aufgeklärt wurde”. Allein die Tatsache, dass er die Siegelung mit der Begründung verlangt hat, es sei “privat”, zeigt ja schon, dass er über sein Recht aufgeklärt wurde. Und dann wollen wir nicht vergessen (und auch das weiss der Blogger als Aargauer ganz genau), dass der Aargauer Beschlagnahmebefehl gerade bei Datenträgern und Unterlagen eine ganze “Kreuzchenstich-Litanei” darüber enthält, was der Betroffene alles verlangen kann. Und angesichts der offenbar ZMG-seitig gestützten Verschleppungstaktik des Beschuldigten kann ich dem BGer nur applaudieren, wenn es anstelle der Aargauer gleich selbst über die Entsiegelung entscheidet.
@Blaise Kern: Man muss ja nicht gleicher Meinung sein wie ich, aber mich als Aargauer zu bezeichnen sprengt das Erträgliche. Und nicht viel besser ist es, dicken Hals zu machen und nicht dazu stehen zu können.
@Blaise Kern: Und ich dachte immer Herr Jeker sei Solothurner. Spannend was man hier so alles “lernt”. Im übrigen, wenn Ihnen die Sicht des Verfassers dieses Blogs, der nun Mal Strafverteidiger ist, tel quel nicht genehm ist, so suchen Sie sich doch einen anderen Blog der Sie auf dem laufenden hält. Den Blog des Staatsanwaltes können Sie dann als “einseitig und behördenfreundlich” und den Blog des Strafrechtsprofessors als “praxisfern und nur aus Sicht des Elfenbeinturmes geschrieben” kritisieren.
@”blaise kern”
Die Bezeichnung als “Aargauer” stellt meines Erachtens durchaus eine justiziable und angreifbare Äusserung einer juristischen Praktikantin dar….
Einer Siegelung muss eine Sicherstellung herborgehen und eine solche Zwangsmassnahme würde Mindestens eine mündliche Anordnung der Staatsanwaltschaft verlangen.
Durchsuchung mit dem Zweck der Verbrechensaufklärung entbehrt nicht nur einer gesetzlichen Grundlage, sie wäre aufgrund der umfassenden Bundeskompetenz und der dar- auf fussenden umfassenden Kodifizierung in der StPO getreu dem Grundsatz «lex superior derogat legi inferiori»16 gar nicht zulässig. Für die Deliktsaufklärung ist einzig die StPO massgebend.
Dies bedeutet weiter, dass ein hinreichender (und damit rational begründbarer) Tatverdacht bestehen muss und die Zwangsmassnahme von der Staatsanwaltschaft entweder vorgängig anzuordnen oder in Anwendung von Art. 241 Abs. 3 StPO nachträglich zu genehmigen ist. Ein Durchsu- chungsbefehl ist sodann zwingend zu begründen.17 Gemäss der zuzustimmenden Rechtsprechung des Obergerichts Zü- rich bedeutet dies, dass «ein schriftlicher Befehl […] stets zumindest summarisch zu begründen ist, wobei es insbeson- dere Ausführungen zum strafrechtlich relevanten Sachver- halt sowie zu der den hinreichenden Tatverdacht begründen- den Beweislage bedarf.»
https://peyerpartner.ch/wp_live/wp-content/uploads/2015/01/Gfeller_Bigler.pdf
Das spielt aber bei uns keine Rolle derogati inferior gibts nicht, sieht man an den Verfassungsrechten jede Bundesrätliche Verodrnunh reicht um alles auszuhebeln.
Der Schweizer steht am Schluss relativ Rechtsschutzlos da…