Verwirkung wegen Treu und Glauben?
Unter diesem Titel legt Marcus Stadler seine eindrückliche Luzerner Dissertation vor, die hoffentlich von den Richterinnen und Richtern studiert wird, die der Verteidigung gerne den Verstoss gegen Treu und Glauben vorwerfen, wenn sie ihre Rügen oder Anträge im taktisch richtigen Zeitpunkt vorträgt (s. einen meiner früheren Beiträge). Es ist soweit ersichtlich das erste Mal, dass sich jemand wissenschaftlich mit dieser wenig überzeugenden Praxis auseinandersetzt und ihr eine weitgehende und überzeugende Absage erteilt.
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Das bezweifle ich, solange die Dissertation nicht als «Open Access» veröffentlicht wird, und danach sieht es leider nicht aus … ?????
Wie ist das eigentlich: Darf der Autor einer Diss. diese eigenständig im Open Access veröffentlichen? Braucht man die Zustimmung des Verlages? Wird diese normalerweise gewährt? Könnte man als Dissertierender die Diss eigenständig an Gerichte zukommen lassen?
Dazu eine Frage: Ein Staatsanwalt, welcher aufgrund einer Telefonüberwachung den Beschuldigten in Haft versetzen liess, erfindet abstruseste Anschuldigungen aus den Telefonaten, weil sich der mf. Anfangsverdacht einfach nicht erhärten liess (auch nicht mit Beugehaft und drohendem Beugen über den Beschuldigten während der Einvernahme mit nicht ganz leisen Tönen etc.). Einen Teil stellt der STA ein, den anderen klagt er an, den dritten, auf welchen Vorwürfen u.a. die Zwangsmassnahmen (BetmG) beruhten, vergisst er.
Vor Erstinstanz kommt er mit dem Schauermärchen einer geplanten Entführung durch; sie meint abschliessend an den Beschuldigten gerichtet, er solle das Urteil doch nicht weiterziehen, er sei gut weggekommen. Klar, dass der Verteidiger es weiterzog.
Vor Zweitinstanz gab es einen vollständigen Freispruch, wobei das Gericht praktisch das Plädoyer des amtlichen Verteidigers als Begründung vortrug (und diesem zum Dank CHF 4’000.- am Honorar ohne Begründung abzog – ausgleichende Gerechtigkeit …).
Der Staatsanwalt hatte, wie erwähnt, vergessen, zwei, drei weitere schwerwiegende Punkte des Anfangsverdachts (BetmG etc.) formell einzustellen. Der Verteidiger thematisiert das vor Zweitinstanz. Der Oberrichter fragt den STA noch: Weshalb stellten Sie nicht einfach ein? – Ausrede: Es handle sich nur um eine andere rechtliche Würdigung (BetmG schwer wurde durch Uminterpretation der Telefonate zur Vorbereitung einer Entführung), d.h., es sei zu diesen Vorwürfen gar keine Untersuchung eröffnet worden (klar, bei U-Haft).
Der Verteidiger wartet die Rechtskraft des Freispruchs zu den angeklagten Vorwürfen ab, um anschliessend die formelle Einstellung auch für die übrigen Vorwürfe vom STA zu verlangen (Strafregisterauszug, POLIS etc. …) und beantragt für die Einstellungen auch eine Entschädigung. Der STA lehnt mit der bekannten Begründung ab.
Die Rechtsverweigerungsbeschwerde wird bis und mit Bundesgericht abgewiesen; eine Entschädigung natürlich auch, da der STA mit der Anklage und den anderen Einstellungen ja über alle Kosten des Verfahrens entschieden habe; wie man über die Kosten vergessener Einstellungen oder, nach STA: gar nie untersuchter, da nachträglich anders qualifizierter Straftaten entscheiden kann, …, aber egal; dem Verteidiger wird jedenfalls Treuwidrigkeit aufgrund des Zuwartens mit dem Gesuch um Einstellung unterstellt, weil ja klar war, dass der STA mit den Einstellungen alle Vorwürfe gemeint habe, die er nicht zur Anklage gebracht habe, weshalb auf die Rechtsverweigerungsbeschwerde nicht einzutreten sei. Entschädigung: Nada.
Es gab keine laufende Untersuchung, es wurde nichts zulasten des Staates verzögert oder gar verunmöglicht; das Zuwarten schadetet niemandem, die Sache wurde vor Zweitinstanz gar thematisiert; die Ausrede des STA verfing nicht, es gab Zwangsmassnahmen zu den Vorwürfen, die später uminterpretiert wurden; es lag nicht im Interesse des Beschuldigten, vor Erledigung der abstrusen Vorwürfe eine zweite Front zu eröffnen, die den STA zum Weiterzug ans BGE hätte animieren können; das wurde dem BGE auch so mitgeteilt, was es veranlasste, die Taktiererei zu missbilligen.
Könnte jemand hier die Treuwidrigkeit begründen?