Verzicht auf Strafverfolgung statt Einstellung
In einem zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehehen Entscheid hat das Bundesgericht eine umstrittene Frage zur StPO entschieden (BGE 6B_708/2012 vom 08.07.2013). Die Fragestellung lautet wie folgt:
Es stellt sich die Frage, ob das Gericht, das im Verfahren nach der Anklageerhebung die Voraussetzungen von Art. 52, 53 oder Art. 54 StGB als erfüllt erachtet, entsprechend BGE 135 IV 27E. 2 über die Anklage entscheiden und im Falle eines Schuldspruchs von einer Bestrafung absehen muss oder ob es gemäss Art. 8 Abs. 1 und Abs. 4 StPO das Verfahren einzustellen hat (E. 3.4).
Die Antwort:
Art. 8 Abs. 1 StPO bildet demnach keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB. Dies ergibt sich aus Art. 310 Abs. 1 lit. c, Art. 319 Abs. 1 lit. e, Art. 329 Abs. 4 und Art. 351 Abs. 1 StPO einerseits sowie aus Art. 52 bis 54 und Art. 55a StGB andererseits. An der in BGE 135 IV 27 begründeten Rechtsprechung ist unter dem Geltungsbereich der StPO festzuhalten (E. 3.4.7).
Erneut wird ein eindeutiger, an sich nicht auslegungsbedürftiger Gesetzestext ausser Kraft gesetzt, um an einer unter anderer Rechtsgrundlage ergangene Rechtsprechung festzuhalten. Neben kaum überzeugenden formalen Argumenten werden – auf den ersten Blick einleuchtend – die Interessen der Geschädigten bemüht. Nur. Eine Einstellung nach Art. 52 StGB kommt bei relevanten Zivilforderungen nicht in Frage (Tatfolgen nicht geringfügig). Bei Art. 53 gibt es keine Zivilforderungen mehr (wieder gut gemacht). Einstellungen oder vollständige Strafbefreiung nach Art. 54 StGB sind bei Delikten mit Geschädigten so selten wie eine vollständige Sonnenfinsternis. Allein deswegen den Gesetzestext ausser Kraft zu setzen geht nicht an, da auch in diesem Fall der Geschädigte nicht schlechter stünde als die Mehrheit aller Geschädigten (in all den Verfahren, die mit Strafbefehl erledigt werden).
Die Lösung des Bundesgerichtes scheitert auch an der Nagelprobe: Sie bewirkt, dass ein Schulspruch einzig von der Qualität des Staatsanwaltes abhängt. Macht er die Arbeit gut und erkennt er die Anwendbarkeit der Art. 52 – 54 StGB wird das Verfahren eingestellt. Macht er sie schlecht, klagt an und erst das Gericht erkennt, dass die Voraussetzungen von Art. 52- 54 erfüllt sind, wird der Beschuldigte verurteilt. Es kann doch nicht sein, dass ein Schuldspruch einzig von der Qualität des Untersuchungsbeamten abhängt.
Tatsächlich ein in vielerlei Hinsicht bedenkliches Urteil. Erstaunlich auch, dass es das Bundesgericht versäumt zu vermelden, dass im von ihm aber durchaus erwähnten “Konzeptbericht der Expertenkommission von 1997” (auf dessen Vorschlag das erweiterte bzw. gemässigte Opportunitätsprinzip von Art. 8 StPO zurückgeht) auf Seite 49 zu lesen ist: “Das Gesetz sollte jedoch eine spätere Anwendung des Opportunitätsprinzips durch die zuständigen Justizbehörden nicht ausschliessen. Es kann vorkommen, dass […] gar erst im Laufe der Hauptverhandlung […] ein Verfolgungsverzicht […] erfolgen soll.” Art. 8 StPO ist nach teleologischer und historischer Auslegung eben durchaus so gemeint, dass auch Gerichte bei im Hauptverfahren gegebenen Strafverfolgungsverzichts- oder Strafbefreiungsgründen des materiellen Rechts einstellen. Und nun der Wortsinn der Vorschrift ebenfalls dahingeht, ist BGE 6B_708/2012 tatsächlich völlig verfehlt… noch ganz abgesehen von den diversen praktischen Ungereimtheiten dieser veralteten Rechtsprechung.