Vom Tun und Unterlassen
Das Bundesgericht weist zwei Beschwerden gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn ab (Urteil 6P.78/2006 vom 27.09.2006). Dieses hatte den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB) zu einer bedingt vollziehbaren Strafe von 5 Tagen Gefängnis verurteilt, weil er als Vertreter der Vermieterin eines Lokals einen schweren Unfall an einem Betriebsfest herbeigeführt habe, indem er zwei von einer Vormieterin benutzte Holzpodeste vor der Bühne nicht entfernte. Eine Mitarbeiterin trat an Betriebsfest über die beiden Holzpodeste hinaus ins Leere und stürzte 3.4 Meter tief in den Treppenschacht.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde rügte der Beschwerdeführer zunächst die Verletzung des Anklagegrundsatzes. Dazu hielt das Bundesgericht fest, dass die kantonalen Vorschriften zur Schlussverfügung nicht über die Minimalgarantien von EMRK und BV hinausgingen. Im Weiteren wirft es dem Beschwerdeführer vor, er habe sich mit allgemeinen Ausführungen zum Anklageprinzip begnügt, weshalb auf das kantonale Recht nicht weiter einzugehen sei.
Auch bei der Rüge der Verletzung von in dubio pro reo habe der Beschwerdeführer “weitestgehend” appellatorische Kritik geübt, was unzulässig ist. Das Bundesgericht ging dann aber trotzdem auf einen Teil ein und stellte u.a. folgende – aus meiner Sicht ziemlich haarspalterischen – Feststellung:
Der Beschwerdeführer wendet sodann ein, der Vorwurf, er habe von der geplanten Bühnenbenutzung gewusst, sei nicht nachvollziehbar. Das Obergericht trifft eine solche Feststellung indessen gar nicht. Festgestellt wird nur, dass er bei seiner Besichtigung des Saals vor der Feier die weiteren aufgestellten Podeste gesehen haben muss und darin ein eindeutiger Hinweis auf eine Bühnenbenützung lag (E.
3.2.2).
In der Nichtigkeitsbeschwerde ging es im Wesentlichen um die Frage, ob der strafbare Erfolg durch die Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht worden ist. Hier liess das Bundesgericht den Beschwerdeführer auflaufen, der seine Garantenpflicht bestritten hat. Das Bundesgericht kam aber anders als die Vorinstanz zum Schluss, es liege gar kein Unterlassungs-, sondern ein Begehungsdelikt vor:
Dem Beschwerdeführer ist in Anwendung dieses Subsidiaritätsprinzips -entgegen der Auffassung der Vorinstanz – eine Handlung und nicht eine Unterlassung vorzuwerfen, denn das Vermieten und die Übergabe des Mietsaalesstellt eine Tätigkeit dar […]. Der Umstand, dass er die Holzpodeste vor der Übergabe der Mietsache nicht entfernte, lässt sein Verhalten nicht als Unterlassen erscheinen, nachdem gleichzeitig eine Handlung vorliegt, an die der strafrechtliche Vorwurf angeknüpft werden kann und muss. Ist nach dem Gesagten aber von einem Begehungsdelikt und nicht von einem unechten Unterlassungsdelikt auszugehen, kann offen bleiben, ob der Beschwerdeführer eine Garantenstellung innehatte (E. 7).
In der Sache kommt das Bundesgericht zu folgendem Ergebnis:
Obschon der Beschwerdeführer wusste, dass die vormalige Mieterin vor der Bühne zwei Holzpodeste aufgestellt hatte, und ihm die Gefahrenquelle im Bereich des Treppenschachts bekannt war, hat er den Mietsaal ohne jegliche Kontrolle weitervermietet. Durch das Belassen der Podeste setzte er die nachmaligen Benutzer des Mietsaales einer unzulässigen Gefahr aus. Er wäre bei pflichtgemässer Sorgfalt gehalten gewesen, den Zustand des Mietsaales vor der Übergabe zu überprüfen und die Holzpodeste wegräumen zu lassen (E.8.2).
Bei dieser Begründung fällt es dann aber nicht mehr leicht, dem Beschwerdeführer nicht eine Unterlassung sondern eine Begehung vorzuwerfen. Diese These fällt geradezu in sich zusammen, wenn dem Beschwerdeführer in der Schlussverfügung unter anderem vorgehalten wird, er habe
als verantwortlicher Vertreter der Vermieterschaft nicht dafür gesorgt, dass die beiden sich bereits zur Zeit der Übergabe der Industrie-Ausstellungshalle an die Mieterschaft zwischen Bühne und Treppengeländer aufgestellten Holzkisten entfernt worden seien.
Kein Wunder, dass das Obergericht von einem Unterlassungsdelikt ausgegangen war. Das Ergebnis ist mehr als unbefriedigend. Dem Beschwerdeführer wird im kantonalen Verfahren ein Unterlassen vorgeworfen, das von den kantonalen Gerichten auch als Unterlassen qualifiziert wird. Das Bundesgericht dreht nun alles um und macht aus dem Unterlassen ein Tun. Im Ergebnis verurteilt es den Beschwerdeführer für ein Tun, obwohl er einer Unterlassung beschuldigt war. Vgl. dazu das Urteil des Bundesgerichts 6P.151/2002 vom 05.03.2003, dem folgendes zu entnehmen ist:
Indem das Obergericht den Beschwerdeführer der einfachen Körperverletzung gegenüber einem Wehrlosen durch Unterlassen schuldig gesprochen hat, obwohl der Anklagesachverhalt die Erfüllung des Tatbestandes lediglich als aktives Tun umschreibt, verletzt es den Anklagegrundsatz.