Vom Wert 38-jähriger psychiatrischer Gutachten

Das Bundesgericht hat in einem heute online gestellten Urteil (6S.267/2006 vom 08.09.2006) einen Entscheid des Obergerichts St. Gallen kassiert, das sich für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 1968 gestützt hatte. Dazu das Bundesgericht:

Die Vorinstanz hat eine leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zu den Tatzeiten bejaht und damit Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich ohne Begründung auf das damals 38 Jahre alte psychiatrische Gutachten abgestützt. Wie dargelegt, durfte sie dies nicht, ohne eingehend darzulegen, weshalb das Gutachten trotz seines Alters nach wie vor aktuell sei. Indem sich die Vorinstanz dazu ausschweigt, entzieht sie dem Bundesgericht die Möglichkeit der Überprüfung der Gesetzesanwendung (E. 5.4).

Der Gutheissung der Beschwerde (Art. 277 BStP) stand nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer kein neues Gutachten beantragt hatte:

[Der Beschwerdeführer] hat mit seiner Berufung vor der Vorinstanz jedoch einen Freispruch von Schuld und Strafe beantragt. Die Vorinstanz hatte mit voller Kognition deshalb über Schuld und Strafe insgesamt neu zu befinden und war verpflichtet, neue Beweise abzunehmen, soweit sie für die Beurteilung erforderlich waren (dazu Art. 245 Strafprozessgesetz St. Gallen vom 1. Juli 1999, sGS 962.1). In solchen Fällen können Rechtsfragen, welche die letzte kantonale Instanz nach dem kantonalen Prozessrecht auch ohne ausdrücklichen Antrag prüfen durfte oder musste, mit der Nichtigkeitsbeschwerde neu vorgetragen werden, selbst wenn sie der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren nicht aufgeworfen hatte (BGE 120 IV 98 E. 2b S. 105). Die Frage der Zurechnungsfähigkeit betrifft auch nicht der Sache nach die Art der Beweisführung, weshalb die von der Rechtsprechung aufgestellte Ausnahme von der Zulässigkeit neuer Vorbringen (vgl. BGE 122 IV 285 E. 1f) nicht einschlägig ist. Auf den Einwand des Beschwerdeführers ist deshalb einzutreten (E. 5.2).