Von 237 Fehlurteilen und der Kriminalität des Schweizers

Eine Nationalfonds-Studie (vgl. den Eintrag der Projektdatenbank) unter der Leitung eines der umtriebigsten Wissenschaftler der Schweiz hat schier Unglaubliches zu Tage gefördert: 237 Fehlurteile in der Schweiz zwischen 1995 und 2004.

Wenn man solches hört, fragt man sich natürlich zunächst, was denn eigentlich ein Fehlurteil sei. Wahrscheinlich spricht man dann von einem Fehlurteil, wenn jemand zu einer Tat rechtskräftig verurteilt wird, die er nicht begangen hat. Als Zweites müsste man sich fragen, wie man ein Fehlurteil überhaupt feststellen kann.

Der Ansatz, den die Killias-Studie offenbar wählte (ist es wirklich möglich, dass die Studien selbst online nicht zugänglich sind?), ist auf den ersten Blick ebenso bestechend wie sie auf den zweiten Blick untauglich sein muss. UNIMAGAZIN (S. 16 ff.) stellt den Ansatz wie folgt dar:

Grundlage der delikaten Daten bilden alle im Rahmen eines Revisionsverfahrens umgestossenen Urteile zwischen 1995 und 2004.

Falls das wirklich der Ansatz war: wer garantiert denn eigentlich, dass die revidierten Urteile die richtigen sind?

Killias-Studien zeichnen sich manchmal auch dadurch aus, dass sie politische Forderungen untermauern sollen, die mit der Studie mitunter herzlich wenig zu tun haben. Gemäss UNIMAGAZIN sieht Killias (völlig zu Recht) ein Problem im Strafbefehlsverfahren und stellt folgende Forderungen an die Politik:

Ein Strafbefehl soll ohne Anhörung nur mehr dann in Frage kommen, wenn der Beschuldigte den Sachverhalt anerkennt. Zudem dürfe sich der Staatsanwalt nicht mehr nur ausschliesslich auf den – oft lückenhaften – Polizeirapport stützen. «Dass ein Strafbefehl vor Gericht weitergezogen werden kann, bietet keinen Ersatz für die Anhörung durch die erste Behörde. Viele Angeschuldigte verstehen die juristische Formularsprache mit der Rechtsmittelbelehrung im Strafbefehl gar nicht. Der Angeschuldigte muss deshalb schon ganz zu Beginn des Verfahrens zu Wort kommen», sagt Killias, «nicht erst, wenn das Fehlurteil in den Köpfen schon gefällt ist.»

Der Tages-Anzeiger hat die Reaktion eines prominenten Strafverfolgers:

Im absoluten Bagatellbereich könnten aber unmöglich 75’000 Einvernahmen mehr durchgeführt werden. Es sei aber zu prüfen, ob die Staatsanwälte im Bereich von ein bis sechs Monaten fakultative Einvernahmen durchführen wollten, um grobe Fehler zu vermeiden.

Die 75,000 Befragungen könnten doch locker die Strafrichter machen, die nach Einführung der StPO/CH arbeitslos werden (ein Blick auf die Geschäftslast der Strafabteilungen der solothurnischen Amtsgerichte führt hier weiter). Viel klüger wäre es aber, den absoluten Bagatellbereich endlich zu entkriminalisieren. Dass in der Schweiz jeder dritte Mann vorbestraft ist, wird man ja kaum mit der überdurchschnittlichen kriminellen Energie des Schweizers erklären wollen.