Von älteren Motorradfahrern und Willkür

Wer einen heute publizierten Entscheid des Bundesgerichts (BGer 6B_74/2023 vom 29.11.2023) liest, gewinnt unabhängig vom Ergebnis kein Vertrauen in die Rechtsprechung des Obergerichts UR. Das Bundesgericht wirft ihm praktisch auf der ganzen Linie Willkür vor und kassiert die Verurteilung eines Automobilisten, der beim Linksabbiegen ein überholendes Motorrad angefahren und zu Fall gebracht hatte.

Dass angesichts des zur Anklage gebrachten Sachverhalts eine Verurteilung erfolgte, erstaunt mich ehrlich gesagt noch gar nicht. Erstaunlich ist dann aber die Argumentation des Obergerichts. Dazu ein paar Highlights aus den Erwägungen des Bundesgerichts:

Auch die Erwägung der Vorinstanz, es sei gerichtsnotorisch, dass Motorradfahrer mit 40 Jahren sich der Verantwortung gegenüber einer Sozia sowie den Folgen einer allfälligen unbedachten Handlung im Strassenverkehr stärker bewusst seien als jüngere Motorradfahrer, und ältere Motorradfahrer sich weniger der leichtsinnigen Versuchung eines Geschwindigkeitsrauschs auf dem Motorrad hingäben, und die daraus gezogenen Schlüsse sind nicht haltbar. […]. Bereits die Einordnung eines 40-jährigen Motorradfahrers als “älterer Motorradfahrer” wirft Fragen auf, zumal daraus negative Folgen für die Beurteilung eines Tatvorwurfs gegen eine beschuldigte Person abgeleitet werden. Jedenfalls kann die Berufung auf die angebliche Gerichtsnotorietät, dass sich der Beschwerdegegner 3 als älterer Motorradfahrer weniger der leichtsinnigen Versuchung eines Geschwindigkeitsrauschs auf dem Motorrad hingebe, nicht dazu dienen, im konkreten Fall zulasten des Beschwerdeführers als beschuldigter Person anzunehmen, dieser habe den Richtungsblinker nicht gesetzt. Eine solche Schlussfolgerung zulasten der beschuldigten Person ist unhaltbar und damit willkürlich (E. 1.4.2).  

Oder:

Wenn die Vorinstanz aufgrund der Fotodokumentation Schlüsse zieht zur Position der Fahrzeuge bei der Kollision und zum Unfallhergang, so ergeht sie sich in reinen Mutmassungen, die sich zulasten des Beschwerdeführers auswirken. Bestehen, wie vorliegend, Zweifel über den Unfallhergang und ist dieser zur Beurteilung des Tatvorwurfs relevant, sind weitere mögliche Beweise, wie insbesondere ein verkehrstechnisches Gutachten, abzunehmen (E. 1.4.4).

Die neuen Beweise werden möglicherweise nicht zu einem anderen Ergebnis führen, vielleicht aber zu einer Begründung, die der nächsten Willkürrüge vor Bundesgericht standhält.