Von Angesicht zu Angesicht
Sehr zur Lektüre zu empfehlen ist der gestern in der NZZ erschienene Gastbeitrag Von Angesicht zu Angesicht von Dr. Patrick Guidon. Guidon ist u.a. Präsident der Strafkammer des Obergerichts des Kantons St. Gallen und ruft zur m.E. dringend erforderlichen Stärkung des Unmittelbarkeitsprinzips auf, das mit der neuen Strafprozessordnung in etlichen Kantonen faktisch verschwunden ist, u.a. auch deshalb, weil Richter die Unmittelbarkeit merkwürdigerweise noch weniger zu schätzen scheinen als die Beschuldigten.
Interessant ist ja, dass diese hehren Forderungen nach mehr Unmittelbarkeit in erster Linie von den oberen Instanzen (Bundesgericht, Obergerichte) erhoben werden, welche die geforderten direkten Beweisabnahmen selber selten bis nie durchführen müssen. Gelackmeiert sind dann die erstinstanzlichen Gerichte, die neben der Durchführung der bereits viel aufwändigeren Hauptverhandlung auch noch die Untersuchung der Staatsanwaltschaft (zumindest teilweise) wiederholen sollen. Für den Status quo ist jedoch nicht zuletzt der Gesetzgeber verantwortlich, der sich in Art. 343 StPO nicht entscheiden konnte (oder wollte), ob er Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung will und (auch) die Klärung dieser Frage den Gerichten überliess. Zu erwähnen ist schliesslich noch, dass die Qualität von (Zeugen-)Aussagen erfahrungsgemäss mit fortschreitender Entfernung zum Ereignis rapide abnimmt (und die Untersuchungen der Staatsanwaltschaften dauern ja bekanntlich ihre Zeit…). Der Eindruck, den die Zeugen an einer Hauptverhandlung hinterlassen, kann deshalb nur noch bedingt zur Wahrheitsfindung beitragen.
Wieso soll sich jemand gelackmeiert fühlen, wenn er einfach nur seine Arbeit machen muss? Für Richter gelten weder Fallpauschalen noch müssen sie unbezahlte Überstunden leisten, oder sehe ich das falsch?
Darum geht es ja gerade in dieser Diskussion: Müssen die erstinstanzlichen Gerichte diesen (Mehr-)Aufwand leisten oder nicht? Der Gesetzgeber hat dazu nichts Verbindliches gesagt. Und über den Mehrwert für die Urteilsfindung lässt sich meines Erachtens streiten. Wer unbedingt „Gerichtstheater“ sehen will, kommt auch im deutschen Privatfernsehen auf die Rechnung…
… und wenn wir die Sache konsequent weiterdenken, braucht es keine Strafrichter mehr und schon gar keine öffentlichen Gerichtsverhandlungen. Die Trennung zwischen Ankläger und Richter ist ohnehin ein Luxus, der nichts bringt. Es reichen seriöse Staatsanwälte. Die Welt ist unter der Inquisition ja schliesslich auch nicht generell schlechter gewesen.
@kj: Also von der Wiedereinführung der Inquisition redet nun ja wirklich niemand. Dort hatte man im Übrigen in der Regel eine öffentliche Gerichtsverhandlung, anlässlich welcher der Beschuldigte das zuvor erpresste Geständnis wiederholte. Das Problem war dort vielmehr die fehlende Parteiöffentlichkeit der Untersuchung. Ich bin im Übrigen auch der Meinung, dass das Strafbefehlsverfahren mit der neuen StPO überhand genommen hat und zu wenige Fälle durch Gerichte beurteilt werden. Die Strafkompetenz der Staatsanwaltschaft von bis zu 6 Monaten sollte wieder auf ein vernünftiges Mass reduziert werden. Aber das hat alles nichts mit der Frage zu tun, ob man die (rechtsstaatlich korrekte) Beweiserhebung durch die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung unbedingt noch einmal wiederholen muss. Ich meine, eher nein.
@RA: Das war eben Gerichtstheater, das niemand will. Ich bin aber ganz entschieden der Meinung, dass grundsätzlich alle Beweise durch das Gericht (nochmals) zu erheben sind. Ich halte es für unzulässig, auf Aussagen von Personen abzustellen, welche das Gericht nicht direkt abgenommen hat (Art. 343 StPO). Das ist soweit ersichtlich im Übrigen auch die Meinung des Bundesgerichts, die sich auch nach der Aera Mathys zu festigen scheint.
Vielleicht sollte zuerst definiert werden, was der „persönliche Eindruck“ genau umfasst. Was ist das konkret?