Von der Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit
Immer wieder bemühen die Straf- und Strafverfolgungsbehörden die Weisheit, es gehe ihnen um die Erforschung der materiellen Wahrheit. Abgesehen davon, dass die materielle Wahrheit eine eher fragwürdige gedankliche Figur ist, welche inquisitorische Züge trägt, sind die Behörden dann aber relativ unzimperlich, wenn es darum geht, Beweisanträge abzuweisen, deren Gutheissung mit erheblichem Aufwand verbunden wäre. Zu diesem Zweck wird dann jeweils die noch fragwürdigere Figur der antizipierten Beweiswürdigung bemüht.
In einem heute online gestellten Urteil hat das Bundesgericht den kantonalen Behörden in ungewöhnlich scharfer Weise vorgeworfen,sie hätten sich in willkürlicher Weise über die Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit hinweg gesetzt (BGer 6B_219/2008 vom 14.07.2008). Die Behörden, die immerhin ein Tötungsdelikt zu untersuchen hatten, interessierten sich offenbar nicht intensiv genug für den Tatablauf. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, grundlegende Untersuchungshandlungen vorzunehmen. Die Befragung eines Augenzeugen sei nicht mehr sinnvoll:
Das Obergericht hat dazu erwogen, die Aussage von D. sei nicht verwertbar, da dieser nie als Zeuge befragt worden sei. Es sei nicht seine Sache dies nachzuholen, auf Grund der Konzeption der Strafprozessordnung sollten die Gerichte keine grundlegenden Untersuchungshandlungen vornehmen müssen, da bereits vom Verhöramt eine umfassende tatsächliche und rechtliche Würdigung gefordert werde. Bei der den Gerichten zustehenden Möglichkeit, selber Beweise zu erheben, habe der Gesetzgeber an Beweishandlungen gedacht, die sich erstmals in diesem Verfahrensstadium aufdrängten. Im jetzigen Verfahrensstadium erscheine eine Rückweisung der Untersuchung wegen des Zeitablaufs von rund 2 ½ Jahren nicht mehr sinnvoll (E. 2.4).
Dieses Verständnis vom Strafprozessrecht goutierten weder der Beschwerdeführer noch das Bundesgericht, welches gegenüber der Vorinstanz und den anderen involvierten Behörden einen ungewöhnlich scharfen Ton anschlägt:
Dieses Vorgehen der Untersuchungs- und der Anklagebehörde sowie beider kantonalen Gerichtsinstanzen ist schlechterdings nicht nachvollziehbar: Bei der Untersuchung eines Tötungsdelikts meldet sich ein unbeteiligter Augenzeuge, der dessen Ablauf exklusiv mitverfolgt und der Polizei genau geschildert hat, und weder die Strafverfolgungsbehörden noch die erkennenden Gerichte halten es für angebracht bzw. notwendig, ihn als Zeugen einzuvernehmen und dadurch als Beweismittel ins Verfahren einzuführen. Stattdessen gehen sie von den wenigen auf Grund übereinstimmender Aussagen oder objektiven Beweismitteln feststehenden Tatsachen aus – dass das Opfer vom Beschwerdeführer und seinen Komplizen unter einem Vorwand auf die Strasse gelockt, dort von diesem und B.Y. erwartet und anschliessend vom Beschwerdeführer mit einem Schuss in die Brust getötet wurde -, lassen offen, ob es vor der Schussabgabe zu einer tätlichen Auseinandersetzung kam und nehmen auf Grund des Wundkanals an, das Opfer sei bei der Schussabgabe seitlich zum Beschwerdeführer gestanden. Daraus zieht das Obergericht wiederum den Schluss, dass das Opfer in diesem Zeitpunkt nicht im Begriff war, den Beschwerdeführer anzugreifen, da nach seinen Erfahrungen Angriffe frontal ausgeführt werden, nicht aus einer seitlich abgewandten Position, und verneint (u.a.) damit das Vorliegen sowohl einer Notwehr- als auch einer Putativnotwehrsituation. Indem das Obergericht somit spekulative und wenigstens teilweise den Beobachtungen des einzigen Augenzeugen widersprechende Annahmen trifft, obwohl ein Beweismittel verfügbar wäre, das geeignet erscheint, das Tatgeschehen weitgehend zu erhellen, setzt es sich in willkürlicher Weise über seine in Art. 21 StPO festgelegte Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit hinweg, die Rüge ist offensichtlich begründet (E. 2.5).
Ich bin sicher, die Vorinstanz hat seine materielle Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen erforscht. Für den Beschwerdeführers und das Bundesgericht hat sich die Vorinstanz gar nicht darum bemüht, materielle Wahrheit festzustellen. Solange die Mär von der materiellen Wahrheit aufrecht erhalten wird, haben wohl alle ein bisschen Recht. Korrekter wäre hier wohl der Begriff von der juristischen Wahrheit.
Google hat mich auf folgenden Aufsatz geführt: Ingo Müller, Der Wert der “materiellen Wahrheit”, Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1977, 522.