Von der Rückzugsfiktion zur widerlegbaren Vermutung
In einem bemerkenswerten Entscheid relativiert das Bundesgericht die Rückzugsfiktion von Art. 355 Abs. 2 StPO im Rahmen einer Laienbeschwerde ganz erheblich (BGer 6B_152/2013 vom 28.05.2013). Im Ergebnis macht es aus der Fiktion eine widerlegbare Vermutung und korrigiert damit eine gesetzgeberische Fehlleistung durch verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des Fairnesgebots:
4.5.1 Werden die Bestimmungen der Strafprozessordnung verfassungskonform ausgelegt, darf ein konkludenter Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der vom Gesetz an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setzt deshalb voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet.
4.5.2 Zu verlangen ist, dass der Betroffene hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihm verständlichen Weise belehrt wird. Das Statthalteramt hat zwar den Vorladungen zu den beiden Einvernahmen einen zweiseitigen Auszug mit verschiedenen Bestimmungen der Strafprozessordnung (Art. 113, 127, 158, 205, 355, 393 und 417 StPO) beigelegt. Mit dieser formularmässigen, für einen Laien unverständlichen Belehrung über alle möglichen Rechte und Pflichten der Parteien im Strafverfahren ist das Statthalteramt seiner Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nicht nachgekommen. Es besteht keine Gewähr, dass sich der Beschwerdeführer der gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst war.4.5.3 Um sich auf die gesetzliche Rückzugsfiktion berufen zu können, muss weiter ein sachlicher Anlass für eine Einvernahme bestehen. Der Beschwerdeführer hat der Vorladung zur ersten Einvernahme Folge geleistet. Er hat die Aussagen zu den ihm unterbreiteten Fragen weitgehend verweigert und im Wesentlichen auf den Polizeirapport sowie die Begründung seiner Einsprache verwiesen. Anhaltspunkte dafür, dass eine zweite Einvernahme für die weitere Abklärung des Anklagesachverhalts hätte dienlich sein können, lassen sich den Akten nicht entnehmen, und es ist auch nicht bekannt, welche zusätzlichen Fragen dem Beschuldigten hätten gestellt werden sollen.4.5.4 Schliesslich kann die gesetzliche Rückzugsfiktion nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann. Der Beschwerdeführer hat jedoch nicht nur ausdrücklich Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben, sondern seinen Willen, eine gerichtliche Beurteilung der ihm vorgeworfenen Straftat zu erwirken, in seinem Antwortschreiben an das Statthalteramt ausdrücklich bekräftigt. Der Vorladung zur ersten Einvernahme hat er Folge geleistet und in deren Verlauf keinen Zweifel daran gelassen, dass er auf einer gerichtlichen Beurteilung beharrt.Unter diesen Umständen kann aus dem unentschuldigten Fernbleiben des Beschwerdeführers bei der zweiten Einvernahme nicht geschlossen werden, er habe damit auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Mit Rücksicht auf die rigorose Praxis zu den ebenso einschneidenden Zustellungsfiktionen konnte damit nicht gerechnet werden. Allerdings: Rechtssicherheit schafft der – im konkreten Fall im Ergebnis zweifellos richtige – Entscheid mit dieser Begründung nicht.
Zudem erging er in Dreierbesetzung und wird nicht publiziert.
Guter Entscheid. Hoffentlich setzt sich diese Auffassung durch. Sinnvoll wäre auch eine Änderung der StPO – wenn man sie ohnehin das nächste mal revidiert.