Von der Substantiierungspflicht zur Beweislastumkehr
Bei einem Beschuldigten haben die Strafverfolgungsbehörden ein Mobiltelefon und ein Notebook sichergestellt. Der Beschuldigte hat die Siegelung verlangt und sich der Entsiegelung widersetzt mit der Begründung, die Datenträger enthielten Informationen, die nicht verfahrensrelevant seien. Zudem seien geschützte Personendaten auch von Dritten sowie geschützte Geschäftsinformationen vorhanden (Fotos, E-Mails. Erbverträge, etc.).
Das ZMG hatte die Entsiegelung gemäss Bundesgericht (BGer 1B_329/2019 vom 14.10.2019) wie folgt begründet:
Das Zwangsmassnahmengericht führte aus, dass die Auswertung dieser sichergestellten Geräte sachverhaltsrelevante Hinweise in Bezug auf den Tatverdacht betreffend sexuelle Handlungen mit Minderjährigen zu Lasten derjenigen Mädchen zu Tage bringen könnte, für welche der Beschwerdeführer Abklärungen getätigt haben soll. Mithin seien die Datenträger für die Strafuntersuchung potenziell relevant und sei der Deliktskonnex damit hinreichend erstellt. Sodann seien zwei komplexe Datenträger sichergestellt worden, die seitens des Beschwerdeführers hinsichtlich allfälliger Geheimhaltungsinteressen bzw. Entsiegelungshindernisse eine (eingehendere) Substanziierung erforderlich gemacht hätten. Der Beschwerdeführer beschränke sich im Grundsatz jedoch auf das pauschale Vorbringen, dass sich auf den Datenträgern verschiedene sensible Daten finden liessen. Insbesondere lege er nicht dar, inwiefern die Geschäftsideen und Konzepte einem absoluten Berufs- oder Amtsgeheimnis im Sinne von Art. 170-173 StPO unterstehen sollten. Auch den Daten der Mitglieder des Vereins X. komme kein entsprechender Geheimnisschutz zu. Bei den Fotos der Spielgruppenkinder, den Steuererklärungen, Finanzübersichten und Verträgen fehle es sodann an der Nähe zur Persönlichkeit des Beschwerdeführers, sodass diese Informationen nicht als höchstpersönliche Aufzeichnungen oder Korrespondenz im Sinne von Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO zu qualifizieren seien. Hinsichtlich der übrigen Aufzeichnungen sei der Beschwerdeführer seiner Substanziierungsobliegenheit nicht nachgekommen. Gänzlich unbekannt bleibe, mit wem und in welchem Zeitraum der Beschwerdeführer vertrauliche Konversationen geführt haben soll und inwiefern diese offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Strafuntersuchung stehen würden (E. 2.3).
Obwohl diese Begründung völlig beliebig und austauschbar ist und obwohl nicht einmal erwähnt wird, woraus sich die potentielle Relevanz ergeben soll, lässt sie das Bundesgericht genügen. Offenbar ist heute einfach jedes Mobiltelefon und jeder Computer potentiell relevant, ohne dass es dafür konkrete Anhaltspunkte bräuchte. Dass jedes Mobiltelefon und jeder Computer aber auch gesetzlich geschützte höchstpersönliche Daten enthält, ist zwar mindestens so klar. Das aber spielt in der Praxis keine Rolle. Mit keinem Wort geht das Bundesgericht zudem auf das Hauptargument des Beschwerdeführers ein, nämlich darauf, dass das ZMG die nicht verfahrensrelevanten Informationen hätte aussondern müssen (vgl. dazu einen früheren Beitrag).
Wahrscheinlich hätte der Beschwerdeführer auch noch substantiieren müssen, auf welchem Teil der Festplatten sich das nicht relevante Material befindet. Aber auch das hätte nichts genützt. Die Argumentation des ZMG und des Bundesgerichts lässt jedenfalls darauf schliessen, dass die Staatsanwaltschaft nicht belegen muss was die Entsiegelung begründen könnte. Es ist viel einfacher, den Betroffenen an seinen Obliegenheiten aufzuhängen, die er nie erfüllen kann.
Da hilft halt nur noch etwas: Konsequent alles verschlüsseln.
Tja, lieber Herr Jeker. Endlich mal ein Entscheid aus der leidigen Entsieglungsgeschichte, der uns (StA) weiterhilft. Leider gehört es anwaltsseitig immer mehr zum courant normal, Strafverfahren mit sinn- uns aussichtslosen Ausstands- und Siegelungsbegehren zu torpedieren. Der von Ihnen kritisierte Entscheid scheint in die richtige Richtung zu gehen – auch Lausanne zermürbt allmählich ob der Flut an Beschwerden aus diesem Bereich. Wer geltend macht, diese oder jene Daten seien vom höherrangigen Rechtsgut der Persönlichkeit geschützt, soll das nicht nur behaupten, sondern bitte auch nachvollziehbar substanzieren. Ihren “heissen” Tipp, alles zu verschlüsseln, können Sie gerne an Ihre Klientel weiter geben.
@Zaunkoenig: ich weiss nicht, ob Sie es sich vorstellen können. Aber es ist irritierend, persönlich angesprochen zu werden von Schlaumeiern, die sich hinter Pseudonymen verstecken. Und meine Kritik haben Sie auch nicht begriffen, oder ist es auch unanständig, anonyme Schlaumeier anzugreifen?. Der Beschwerdeführer hatte in erster Linie argumentiert, das ZMG habe das auszusondern, was nicht untersuchungsrelevant sei. Damit hat er auf der Linie der Praxis des Bundesgerichts argumentiert, nicht?
Die Siegelung ist letztlich eine Sonderform eines Herausgabe-Antrags, und wie bei diesem muss der Antragsteller darlegen, wie und wieso – und wieso gerade jetzt – etwas herausgegeben werden soll. Dies muss er in einer Form tun, die es dem Gericht ermöglicht, die Stichhaltigkeit der Gründe zu prüfen und bei Bedarf den Antrag umzusetzen.
Tut er dies im Entsiegelungsverfahren nicht, liegt es wieder am ordentlichen Vorverfahren, solche Fragen zu beantworten. Das ist keine Beweislastumkehr und kein Rechtsverlust. Es ist vielmehr – gesamthaft – das gesetzliche Verfahren, wie Beschlagnahmeverbote zu handhaben sind. Das Entsiegelungsverfahren ist nur ein Teil des gesetzlichen Konzepts und hat entsprechende Einschränkungen und Obliegenheiten an den Gesuchsteller.
Das Entsiegelungsverfahren ist demgegenüber ganz sicher nicht ein Verfahren, wo Betroffene einen Richter damit beauftragen können, nach diffusen Kriterien irgendwelche Beweismittel für sie zu durchforsten.
Vor der Siegelung kommt der Durchsuchungsbefehl. Wenn der einigermassen konkret sagt, worin der Tatverdacht besteht (meistens steht bloss der Tatbestand drin), wonach konkret gesucht wird (meistens steht bloss drin, man suche Beweismittel) und worauf die Vermutung basiert, dass diese konkreten Informationen in diesen konkreten Aufzeichnungen enthalten sein könnten, dann habe ich auch keine Probleme mit Obliegenheiten des Gesuchsgegners. In der Praxis ist es aber eben nicht so. Die Behörden machen über die vagen Durchsuchungsangaben Zufallsfunde zum Programm und die einzigen, die was zu begründen haben, sind die Gesuchsgegner. Das ist Beweislastumkehr. Übrigens: im Entscheid hat der Beschwerdeführer u.a. geltend gemacht, auf dem Handy seien Familienfotos und vertrauliche Mails. Das Gericht wirft ihm u.a. vor, er habe nicht spezifiziert, wo sie sind (das muss man nicht kommentieren, oder?). Am Ende habe ich den Gesetzestext klar auf meiner Seite, Sie bloss die Bedürfnisse der Staatsanwälte und Zwangsmassnahmenrichter. Und schliesslich: Die Siegelung führt dazu, dass im Entsiegelungsverfahren das nicht Untersuchungsrelevante ausgesondert werden muss. Ist eine Information zwar untersuchungsrelevant, gleichzeitig aber geheimnisgeschützt, hat das ZMG zu entscheiden, was wichtiger ist. Was ist daran so falsch?
Das ist alles gut und richtig, was Sie schreiben.
Aber wie auch der Gesetzgeber denken viele Leute bei der Siegelung wahrscheinlich an Lehrbuchbeispiele wie den Brief des Anwalts mit den Prozesschancen, an das Tagebuch mit dem Mordgeständnis, an den Arztbericht mit der Krebsdiagnose, etc.
Aber wie macht man das bei sieben Millionen E-Mails, Chatnachrichten. Fotos und Videos?
Automatisierte Triage nach Stichwortlisten? —- Chronisch Unzuverlässig bei Fremdsprachen, Typos, Bildern, Tondateien (whatsapp), erst später erkannten neuen Stichworte, etc. Hier droht ein massiver Beweisverlust.
Einzel-Triage der Daten durch den Richter zusammen mit Anwalt? — Die Sichtung dauert Wochen und Monate mit horrenden Anwaltskosten. Ausserdem verfügt der Richter nicht über die Untersuchungsakten, bzw. würde am Schluss in der Position des Ermittlers enden, was nicht seine Aufgabe sein kann.
Das Problem sind die enormen Datenmengen. Jeder hat heutzutage mehrere Datengeräte, wo Bilder, Textnachrichten, E-Mails, etc. auch noch synchronisiert werden. Jedes dieser Geräte ist grundsätzlich beweisrelevant, d.h. es könnten sich darunter beweisrelevante Daten befinden. Wo (und ob) Beweise letztlich tatsächlich gespeichert sind, weiss die Polizei ja vorher auch noch nicht.
Das aktuelle Gesetz ist diesbezüglich wie ein Holzofen, der ein Elektrofahrzeug antreiben soll: Es ist zeitlich im vorletzten Jahrhundert stehen geblieben und deswegen klappt es einfach nicht in der Praxis.
Ich verweise auf den luziden Aufsatz von Damian Graf in der NZZ vom 26.10.2019. Eine entsprechende Gesetzesanpassung scheint für mich die einzige vernünftige Möglichkeit zu sein. Das wäre auf jeden Fall ehrlicher als eine über-formalistische Substantiierungspflicht, welche letztlich nur noch als Feigenblatt dient, um die Siegelung bei grossen elektronischen Datenmengen faktisch abzuschaffen.
@Verfassungsrechtler: Das sehe ich ja alles auch. Das Hauptproblem liegt aber eben nicht bei den Datenmengen, sondern in den unbestimmten Angaben der Staatsanwälte. Wenn keine Siegelung erfolgt kann die StA ja die ganzen Daten durchsuchen. Wie macht sie es dann? Mit Stichworten und der entsprechenden forensischen Software? Wieso kann sie ihre Suchkriterien nicht schon spezifizieren, bevor sie Datenträger sicherstellt? Wir leisten uns den einmaligen “Luxus”, dass Durchsuchungen ohne Richtervorbehalt möglich sind. Bei der Durchsuchung von Aufzeichnungen kann der Betroffene den Richtervorbehalt durch die Siegelung erwirken. Wie will der Staat die Grundrechte der Betroffenen anders schützen? Und mit Verlaub: der “Aufsatz” von Graf ist eher peinlich denn luzid. Er hat u.a. in der Akademie zu Empörung geführt. Graf selbst, seinerseits Staatsanwalt, hat schon wesentlich besseres dazu verfasst.
Akademiker sind schnell empört.
Wo haben sie den Gesetzestext auf ihrer Seite? Das Gesetz sagt ja eben gerade nichts zum Verfahren, ausser dass es innerhalb eines Monats abgeschlossen werden soll. Damit ist eigentlich klar, dass mehr als ein einziger Schriftenwechsel und die Ausscheidung glasklarer Sachverhalte, die keiner aufwändigen Prüfung bedürfen, nicht beabsichtigt war.
Der Rest ist durch oftmals leicht hysterische und teils schlicht systemwidrige Rechtsprechung entstanden, die es ja bis heute nicht schafft, sich innerhalb von drei Urteilen nicht mindestens zweimal zu widersprechen. Man kann sich fragen, ob überhaupt jemand daraus irgend etwas herleiten kann.
Einen “Seite” gibt es in der Frage im Übrigen ohnehin nicht. Niemand will unverwertbare Beweismittel in den Akten. Aber dass dafür Verfahren – unabhängig von der Berechtigung im Einzelfall – standardmässig Dreivierteljahre oder mehr blockiert werden, ist eine Perversion dieses Instruments und ein gezielter Missbrauch des Anliegens für rein verfahrenstaktische Ziele.
Das Gesetz sagt, worum es im Verfahren geht und wer zu was verpflichtet ist. Apropos systemwidrige Rechtsprechung: wer definiert Systemwidrigkeit? Die Verwaltungsbehörden? Was ist pervers daran, dass Staatsanwälte nur sehen sollen, wonach sie suchen? Und was ist pervers daran, dass ein Richter prüft, ob sie das, was sie suchen auch sehen dürfen? Natürlich haben Sie aber recht, wenn Sie verfahrenstaktische Ziele befürchten. Die Siegelung ist wie beispielsweise die Akteneinsicht immer auch Verfahrenstaktik. Wer Verteidigung will, muss mit Taktik leben und umgehen können. Wer sei nicht will, muss das System ändern. Im geänderten System muss er jetzt nur noch sicherstellen, dass es keine systemwidrige Rechtsprechung gibt.
klar, alles immer verschlüsseln ist wohl die lösung.
Lustig wie hier die Staatsanwälte sich über die „Verzögerungen“ aus Beschwerden zur entsiegelung und Ausstandsgesuchen echauffieren.
Tatsache ist doch das 98% der Anträge durchgewunken werden von dem ZMG Gerichten, und die Staatsanwälte die teilweise nicht mal die RA Prüfung geschafft haben, dürften kaum derat luzide Begehren stellen das diese zu 98% durchgewunken werden können.
Insofern hat jeder Recht der sich wehrt und viele dringen auch durch mit Begehren, das heisst im umkehrschluss das ZMG Gericht hat seinen Auftrag nicht wahrgenommen, berechtige Untersuchungen von unberechtigen Grundrechsteingriffen abzugrenzen. Eine Schande für jedes Gericht und jeden Richter, würden sich Richter und Staatsanwälte mehr an die gesetzlichen Vorgaben halten, dann gäbe es auch viel weniger Beschwerdegründe.
Man muss sich nur mal vorstellen St. Gallen war bis ins Jahr 2014 nicht in der Lage den Untersuchungshäftlingen am Sonntag Hofgang wegne Personalmangel zu gewähren, da musste einer auch vor BGE gelangen um diese MenschrechtVerletzungen während untersuchungshandlungen Rügen zu lassen.
Es kann doch nicht angehen das der Staat im Rahmen von Untersuchungshandlungen um eine Straftat aufzudecken selbst Straffällig wird und dabei Rechstnormen wie die Menschenrechte missachtet, was ist das für ein Land das im Wohlstand ersäuft und den Häftlingen nicht mal die elementarsten Grundrechte gewährt?
Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen. Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1881)
Und es hat sich auch heute noch nichts geändert Transportiert werden gefangene in Verhältnissen welche der Tierschutzverodnung nach Art 3 wiedersprechen.
Würden eine Privatperson einen Hund unter diesen Platzverhältnissen Transportieren würde er gebüsst. Gefangene müssen im Transport auch keine Sicherheitsgurte tragen, während man Bürger dafür büsst….
Der Saat hat offensichtlich riesige Mühe seine eignen Vorschriften anzuwenden….was soll der Bürger da noch vom Gesetz halten…