Von einem doch nicht befangenen Staatsanwalt und einem befangenen Verteidiger, der seinen Mandanten verhaften liess, als er selbst noch Staatsanwalt war
Ein heute publizierter Entscheid des Bundesgerichts enthält einen Sachverhalt, den es so wohl nur in der Schweiz geben kann (BGer 1B_620/2020 vom 23.02.2021). Bemerkenswert sind schon die äusseren Umstände, die darin bestehen, dass eine kantonale Generalstaatsanwaltschaft gegen den Ausstand eines ihrer Staatsanwälte Beschwerde beim Bundesgericht führen kann, und damit sogar erfolgreich ist. Bemerkenswert ist auch, dass der amtlich verteidigte Beschuldigte zusätzlich einen Privatverteidiger engagiert hat, der zuvor Staatsanwalt war und ihn als solchen schon einmal verhaften liess. Zur Konstellation kann dem Entscheid folgendes entnommen werden:
In diesem Zusammenhang hat der Wahlverteidiger von Anfang an offen kommuniziert, dass er als ehemaliger Staatsanwalt eines Nachbarkantons den Beschuldigten im Jahr 2011 verhaftet hatte, dies aber seiner Meinung nach keinen Interessenkonflikt darstelle. Weiter ist nicht bestritten, dass der Beschuldigte schon vor Mandatierung des Wahlverteidigers versucht hatte, die Berufung zurückzuziehen und diesbezüglich den Staatsanwalt kontaktiert hatte. Die Positionen der beiden Verteidiger sind sodann nicht strittig: während der amtliche Verteidiger die Berufung nicht zurückziehen, sondern im Berufungsverfahren einen Freispruch erwirken wollte, setzte sich der Wahlverteidiger für einen Berufungsrückzug ein. Die zwei telefonischen Kontakte zwischen dem Wahlverteidiger und dem Staatsanwalt am 5. bzw. am 16. Juni, deren Thema der allfällige Rückzug der Beschwerden war, werden ebenfalls von keiner Seite bestritten. Fest steht schliesslich, dass weder der Staatsanwalt noch der Wahlverteidiger den amtlichen Verteidiger darüber in Kenntnis gesetzt haben (E. 2.1).
Die Gespräche mit dem Staatsanwalt. welche dem amtlichen Verteidiger nicht kommuniziert worden waren, stellten denn auch der geltend gemachten Ausstandsgrund dar, den das Obergericht TG als solchen anerkannt hatte. Das Bundesgericht macht es sich denkbar einfach, lässt die alles entscheidende Frage offen und stellt fest, dass jedenfalls keine schwerwiegende Amtspflichtverletzung auszumachen sei:
Die Gespräche zwischen Wahlverteidiger und Staatsanwaltschaft betrafen sodann stets einen beidseitigen Rückzug des Rechtsmittels. Damit hätte der Beschuldigte zwar die Chance verloren, eine mildere Bestrafung oder gar einen Freispruch zu erwirken; zugleich wäre aber auch das Risiko einer Verurteilung zu einer noch längeren Freiheitsstrafe sowie einer – von der Staatsanwaltschaft angestrebten – Verwahrung entfallen. Wie es sich damit verhält, kann indes offen gelassen werden: eine allfällige Verletzung von Amtspflichten des Staatsanwaltes kann aus den oben angeführten Gründen jedenfalls nicht als derart schwerwiegend bezeichnet werden, dass sie bei objektiver Betrachtungsweise den Anschein erwecken müsste, der Staatsanwalt könne den in diesem Verfahrensstadium herabgesetzten Anforderungen an seine Unbefangenheit nicht mehr genügen (E. 4.2)..
Darüber, dass der angefochtene Entscheid ein Zwischenentscheid war, der eigentlich ja nur anfechtbar wäre, wenn ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur belegt werden kann, hat das Bundesgericht grosszügig hinweg gesehen. Ihm reicht ein m.E. rein tatsächliches Interesse:
Vorliegend ist das rechtlich geschützte Interesse der Staatsanwaltschaft an einer Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids zwar nicht offensichtlich. Sie führt jedoch in überzeugender Weise aus, dass sich die vorliegende Beschwerde auf das Verfahren im “Straffall X.” beziehe, das über 30 Sachverhaltskomplexe und insgesamt 16 Beschuldigte betreffe. Da der ausserordentlich aufwendige Berufungsprozess im März 2021 beginnen soll, hätte der Ausstand weitreichende Konsequenzen. Leichtfertige Ausstandsentscheide in derart komplexen Verfahren würden die Justiz als Ganzes schwächen und eine effektive Strafverfolgung in der Schweiz verhindern (E. 1.2).
KORREKTUR: Es lag ein Zwischenentscheid nach Art. 92 BGG vor.
Nichts liesst sich spannender als das Leben
Vorliegend handelte es sich um einen angefochtenen Zwischenentscheid gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG und nicht Art. 93 BGG.
@BGG: Danke für die Richtigstellung.
Da der Entscheid den Ausstand betrifft (Art. 92 Abs. 1 BGG), ist kein nicht wieder gutzumachenden Nachteil i.S.v. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG notwendig.
@Hans Müller: Danke für die Richtigstellung.
Bemerkenswert finde ich auch, dass der amtliche verteidiger offenbar eine berufung gegen den willen seines mandanten durchziehen will. Ein schelm, der denkt, dass es da nicht auch um die brieftasche des amtlichen verteidigers geht…
“Damit hätte der Beschuldigte zwar die Chance verloren, eine mildere Bestrafung oder gar einen Freispruch zu erwirken; zugleich wäre aber auch das Risiko einer Verurteilung zu einer noch längeren Freiheitsstrafe sowie einer – von der Staatsanwaltschaft angestrebten – Verwahrung entfallen.”
Wer von den geschätzten Herren Verteidiger kann mir erklären, wie ein amtlicher Verteidiger in einer solchen Situation – entgegen dem Willen seines Klienten – an einer Berufung festhalten kann? Zumal ja stets behauptet wird, der Klient und nicht der Verteidiger lege die Verteidigungsstrategie fest.
Interessieren würde mich auch, was ein Verteidiger seinem Klienten sagen würde, wenn bei einer solchen Ausgangslage schlussendlich tatsächlich die beantragte Verwahrung angeordnet würde?
Ich stelle mir die Antwort etwa so vor: “Oh… Sorry… Da hat meine theoretische, jeglichen Bundesgerichtsentscheiden und den Akten widersprechende Verteidigungsstrategie – welche mit sinnentstellend wiedergegebenen Aussagen und grotesk anmutenden Argumenten untermauert wurde – leider nicht funktioniert. Sorry…. . Aber Schwamm drüber…. Könnten Sie mir auf Google trotzdem fünf Sterne und eine positive Bewertung geben?”
🙂
@ Frager
“Ich denke ein Anwalt sollte nur auf seinen Mandanten hören”.
Wenn der Mandant also eine Weisung erteilt die für ihn schädlich ist, dann muss der Anwalt diese nicht ausführen, er ist eventuell sogar verpflichtet diese Weisung nicht auszuführen. Und sei es durch Niederlegung des Mandates wenn der Mandant sich als resistent erweist. So ist es in meinem Land und ich habe das auch immer so gehandhabt. Wäre ja schlimm wenn Laien es gerade besser wüssten als wir Fachleute.
In Deutschland ist es übrigens nicht anders. https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=AnwBl%202013,%20826 BGH, 13.09.2013 – V ZR 136/13
@Tades: Der Mandant weiss besser als sein Anwalt, was für ihn gut ist. Unsere Pflicht ist, ihn sorgfältig aufzuklären. Verteidiger sind nicht Vertreter, sondern Beistände. Eine Mandatsniederlegung kommt – falls überhaupt möglich – nur dann infrage, wenn der Klient nicht urteilsfähig ist oder wenn seine Weisung eine rechtswidrige Handlungen beinhalten würde.