Vorbefassung ist rechtlich keine Vorbefassung

Das Bundesgericht bestätigt in einem neuen Grundsatzentscheid, dass ein Richter, der eine Anklage zu beurteilen hat, die er zuvor zurückgewiesen hatte, nicht zwingend ausstandspflichtig wird (BGE 1B_98/2022 vom 03.03.2022, Publikation in der AS vorgesehen), Die Vorbefassung im tatsächlichen Sinn betraf ein gescheitertes abgekürztes Verfahren (Schweigen des Beschuldigten im Hauptverfahren) und damit ein im neuen Verfahren nicht verwertbares Geständnis.

Für das Obergericht AG war dies keine Vorbefassung i.S.v. Art. 56 lit. b StPO. Das Bundesgericht bestätigt diese Auffassung für die vorliegende Konstellation:

Nach der Rechtsprechung kann von einem Richter erwartet werden, dass er in der Lage ist, die unverwertbaren Beweise von den verwertbaren zu unterscheiden und sich bei der Würdigung ausschliesslich auf Letztere zu stützen (BGE 143 IV 475 E. 2.7 mit Hinweisen). Weshalb es sich im vorliegenden Zusammenhang anders verhalten sollte, ist nicht ersichtlich. Dass sich ein Geständnis als unverwertbar erweist, kann auch sonst vorkommen, etwa wenn sich in der Hauptverhandlung ergibt, dass es durch unzulässigen Druck (Art. 140 StPO) erlangt wurde. Auch in einem solchen Fall muss das Gericht nicht sofort in den Ausstand treten, sondern kann von ihm erwartet werden, dass es in der Lage ist, das Geständnis auszublenden und sein Urteil ausschliesslich auf die verwertbaren Beweise zu stützen. Dass die Beschwerdegegner das Geständnis ausser acht lassen können, kann umso eher angenommen werden, als es der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung des abgekürzten Verfahrens nicht bestätigte, sondern die Aussage verweigerte, was zu dessen Scheitern führte (BGE 139 IV 233 E. 2.6) [E. 5.7].

Etwas schwieriger ist die zusätzliche Argumentation des Bundesgerichts:

Der Beschwerdeführer macht geltend, die Beschwerdegegner hätten die Akten im abgekürzten Verfahren eingehend studiert und sich daher bereits ihre Meinung gebildet.  Der Einwand geht schon deshalb fehl, weil das Gericht im abgekürzten Verfahren – dessen Charakter entsprechend (BGE 139 IV 233 E. 2.3) – die Akten lediglich summarisch prüft (Urteil 1B_75/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 2.3 mit Hinweisen). Es ist nicht einzusehen, weshalb sich die Beschwerdegegner hinsichtlich der Schuld des Beschwerdeführers bereits abschliessend festgelegt haben sollten, nur weil sie im abgekürzten Verfahren die Akten summarisch sichteten (E. 5.8). 

Das Bundesgericht schiebt ein „caveat“ nach:

Vorbehalten bleiben Fälle, in denen der Richter im abgekürzten Verfahren zu erkennen gegeben hat, dass für ihn die Schuld des Angeklagten bereits feststeht. So kann es sich etwa verhalten, wenn das Gericht die Akten an die Staatsanwaltschaft zurückweist, weil es die beantragte Sanktion als zu tief erachtet (Art. 362 Abs. 1 lit. c und Abs. 3 StPO); ebenso, wenn sich der Richter in einer Weise geäussert hat, die keinen Zweifel darüber zulässt, dass er sich seine Meinung bereits gebildet hat (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, a.a.O.). Um einen derartigen Fall handelt es sich hier nicht (E. 5.11). 

Der Beschwerdeführer stellte übrigens auch die Fachkompetenz der Richter infrage, dies ebenfalls ohne Erfolg:

Der Beschwerdegegner 1 ist kein Laie. Er verfügt über einen juristischen Universitätsabschluss und das Anwaltspatent. Es bestehen keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür, dass er ausserstande wäre, den beim Bezirksgericht hängigen Fall in den Einzelheiten zu erfassen, sich darüber eine Meinung zu bilden und das Recht darauf anzuwenden. Soweit die Beteiligten mit seiner Verfahrensführung oder dem bezirksgerichtlichen Urteil nicht einverstanden sein sollten, stünde es ihnen frei, die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel zu ergreifen. Eine Ausstandspflicht begründet das nicht (E. 4.3).