Vorbeifahren auf Einspurstrecke
Das Bundesgericht hat sich jüngst in Fünferbesetzung mit folgendem Sachverhalt auseinandergesetzt (BGer 6B_216/2018 vom 14.11.2018):
X. fuhr […] auf der Autobahn A3W, Fahrbahn Richtung Zürich. Auf Höhe Autobahn-km 0.325 in 8038 Zürich fuhr er mit einem geringen Geschwindigkeitsüberschuss bei wenig Verkehrsaufkommen rechts auf dem Normalstreifen an einem Personenwagen vorbei, der über eine längere Fahrstrecke auf dem linken der beiden Fahrstreifen (Überholstreifen) unterwegs gewesen war.
X. wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG verurteilt. Das Bundesgericht bestätigt den Entscheid und verwirft das Argument, X. habe auf einer Einspurstrecke rechtsvorbeifahren dürfen:
Eine Einspurstrecke, die gemäss Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV zum Rechtsvorfahren berechtigt, liegt nur dann vor, wenn sich auf dieser Spur ausschliesslich ein anderes Fahrziel als auf der benachbarten Spur befindet. Nur in diesem Fall rechtfertigt sich die Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens auf Autobahnen. Bei nur teilweise unterschiedlichen Fahrzielen ist nicht von unterschiedlichen Fahrzielen im Sinne von Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV auszugehen (E. 1.7, Hervorhebungen durch mich).
Mit anderen Worten: Ob jemand beim Rechtsvorbeifahren eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft (Ar.t 90 Abs. 2 SVG) hängt davon ab, was auf der Einspurtafel steht. Das leuchtet mir nicht ein.
Wieso nicht?! Ist doch klar: Wenn auf beiden Tafeln mindestens ein gleiches Ziel vorhanden ist, dann muss der Rechtsvorbeifahrer damit rechnen, dass das andere Auto doch noch nach rechts auf seine Spur wechselt. Wenn das nicht der Fall ist (also so wie das BGE formuliert, ausschliesslich andere Ziele vermerkt sind) kann davon ausgegangen werden, dass der Linksfahrer sein Ziel verfolgt und seine Spur nicht verlässt, da er ja auch keine Motivation dafür hat. Selbstverständlich haben wir dann noch die Fälle, bei denen der Linksfahrer erst spät bemerkt, dass er eigentlich auf der falschen Spur mit dem “falschen” Ziel fährt und dann doch noch rechts rüberzieht…
Sehe ich auch so.
Der Text (das Fahrziel) auf der Tafel beeinflusst die Wahrscheinlichkeit eines – in diesem Falle gefährlicheren – Spurwechsels.
Solche Urteile gehen völlig an der Realität des Alltags als Verkehrsteilnehmer vorbei. Uns sie erfüllen nicht den Zweck, den Einzelnen vor Bedrohungen durch andere zu schützen.
Null Common Sense!
Tagtäglich ist man von Rasern und Ignoranten im Verkehr umgeben, die nicht belangt werden können, aber in Fällen wie diesen spielen sich die Richter als besserwisserische Haarspalter auf, die den Sinn eines Gesetzes schon lange völlig aus den Augen verloren haben.
Solche Urteile stärken nur die penetranter Linksfahrer in ihrem skandalösen Verhalten, und bestraft am Ende die Falschen.
Es wäre nun wirklich an der Zeit, dass das Rechtsvorbeifahren auch von den gnädigen Herren in Lausanne ohne wenn und aber als rechtmässig erachtet würde. Erstaunlich, dass man sich bei der Lösung solcher Sachverhalte nicht am Ausland orientiert, dort wird entweder das Rechtsvorbeifahren toleriert oder zumindest muss man nicht mit einem zusätzlichen Führerausweisentzug als empfindlichen Kollateralschaden rechnen.
@Friedric Müller: Sag’s bitte nicht weiter, aber hier bin mal gleicher Meinung. Selbst wenn man es als Verkehrsregelverletzung qualifizieren wollte: ich sehe nicht ein, wieso es eine schwere sein soll.