Vorsorgliche Präventivhaft
Nachdem das Bundesgericht den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr über den Gesetzestext hinaus bejaht hat (vgl. dazu BGE 137 IV 13) , befürwortet es jetzt auch Untersuchungshaft zur Abklärung, ob Wiederholungsgefahr überhaupt besteht (BGer 1B_160/2016 vom 17.05.2016).
Bemerkenswert ist, dass das Bundesgericht mehr oder weniger offen anerkennt, über das Gesetz zu verletzen:
Seine Anwendung über den gesetzlichen Wortlaut hinaus auf Ersttäter muss auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und setzt voraus, dass nicht nur ein hinreichender Tatverdacht besteht, sondern erdrückende Belastungsbeweise gegen den Beschuldigten vorliegen, die einen Schuldspruch als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Zudem muss die Rückfallprognose sehr ungünstig ausfallen (Urteil 1B_322/2014 vom 9. Oktober 2014 E. 3.2) [E. 2.2.1].
Das hindert das Bundesgericht nicht daran, den Gesetzestext gleich nochmals zu überschreiten und Untersuchungshaft anzuordnen, wenn die Rückfallprognose noch nicht einmal vorgenommen werden kann:
Das Obergericht hat unter diesen Umständen kein Bundesrecht verletzt, indem es Wiederholungsgefahr bejahte. Das gilt jedenfalls bis zum Vorliegen des Gefährlichkeitsgutachtens über den Beschwerdeführer, welches in absehbarer Zeit – Mitte Juni, d.h. in rund einem Monat – erwartet werden kann und welches darüber Aufschluss geben soll, ob und wie stark er effektiv rückfallgefährdet ist und ob sich diese Gefahr gegebenenfalls durch mildere Massnahmen als Haft bannen lässt (E. 2.2.3).
Das Bundesgericht strapaziert die Schmerzgrenze aber gleich nochmals, indem es die Beweislast umkehrt und dem Beschwerdeführer im Ergebnis auch noch zum Vorwurf macht, dass er selbst Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde:
Damit kann einerseits zurzeit nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund des selbst erlebten Missbrauchs und seiner – allenfalls damit zusammenhängenden – pädophilen Neigungen in erheblichem Ausmass rückfallgefährdet sein könnte (E. 2.2.3).
Wenn der besondere Haftgrund im Zeitpunkt des Haftentscheids nicht nachzuweisen ist, Untersuchungshaft aber dennoch angeordnet werden darf, kommt dies m.E. strukturell einer Abschaffung der besonderen Haftgründe gleich. Verständlicherweise hatte der Beschwerdeführer denn auch gerügt, die Haftanordnung sei nicht nachvollziehbar. Das Bundesgericht hat es für notwendig erachtet, dies in seinem Entscheid wörtlich zu zitieren (um sein Unverständnis zum Ausdruck zu bringen?).
In der Botschaft steht zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr: “Um auszuschliessen, dass Personen auf Grund nicht näher begründeter Annahmen in Untersuchungshaft genommen werden, sieht das Gesetz verschiedene Schranken vor: […] Sodann muss die beschuldigte Person bereits früher Staftaten (also mindestens zwei) begangen haben […].”
Das Bundesgericht hat natürlich Recht, dass es sinnvoll wäre, man könnte jemanden bei schweren Straftaten und hoher Rückfallgefahr in Haft nehmen, aber es ignoriert mit seiner “Auslegung” nicht nur den klaren Wortlaut des Gesetzes sondern auch den ebenso klaren Willen des Gesetzgebers.
Es wäre wohl ehrlicher und dogmatisch m.E. immer noch überzeugender gewesen, die polizeiliche Generalklausel anzurufen und den Gesetzgeber zur sofortigen Revision des Gesetzes anzuhalten (Art. 36 Abs. 1 BV: Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.).
Wobei die Gefahr (psychisch gestörte Ersttäter mit schweren Delikten) ja vorhersehbar gewesen wäre und daher auch die pol. Generalklausel eigentlich nicht als Grundlage für die Präventivhaft hätte angerufen werden können…
Gerichte können/dürfen schlechte Gesetze eben nicht nach belieben “verbessern”, auch wenn der Mangel offensichtlich ist und selbst dann, wenn diese verfassungswidrig erscheinen (Art. 190 BV).
Dieser neue Entscheid des Bundesgerichtes macht Angst. Wohin führt es, wenn UHaft immer mehr auch für nicht begangene Taten verfügt wird, über die nur spekuliert werden kann. Die Gefahr des Missbrauches ist riesig. Zur Abrundung kann auch auf den treffenden Artikel von Sarah Schläppi und Niklaus Ruckstuhl, “Die Grenzen der Untersuchungshaft”, in der NZZ vom 26.05.2016 verwiesen werden. Strafverteidiger haben es immer schwerer. Wir können nur mit ständigem Hinterfragen und Wachsamkeit verhindern, gänzlich zum rechtstaatlichen Alibi zu verkommen.