VStrR-Strafverfügung als verjährungsrechtliches Urteil: Das Bundesgericht besteht auf seiner (falschen) Rechtsprechung
In einem zur Publikation in der AS vorgesehenen Grundsatzentscheid (BGE 6B_1007/2021 vom 29.01.2024) hält das Bundesgericht an seiner Rechtsprechung fest, wonach eine Strafverfügung (Art. 70 VStrR) den Eintritt der Verjährung wie ein erstinstanzliches Urteil hemmen soll (Art. 97 Abs. 3 StGB).
Hinzu kamen im beurteilen Fall auch andere verjährungsrechtliche Fragen. Umstritten war der Beginn der Verjährungsfrist bei der Steuerhinterziehung Art. 61 aVStG. Dieser musste etwas nach hinten gezogen werden, denn die Strafverfügung wurde erst ganz knapp vor Verjährungseintrit zugestellt:
Nach den für das Bundesgericht verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG), wurde der ESTV weder fristgemäss eine Jahresrechnung der B. AG für das Jahr 2011 eingereicht (vgl. Art. 21 Abs. 1 lit. c VStV) noch hat eine Generalversammlung stattgefunden, welche die Jahresrechnung – sofern diese überhaupt erstellt wurde – hätte genehmigen können. Gestützt auf die obgenannte bundesgerichtliche Rechtsprechung, wurde die Deklarationspflicht – in Berücksichtigung, dass das Geschäftsjahr der B. AG jeweils dem Kalenderjahr entsprach – am 30. Juli 2012 verletzt, womit die siebenjährige Verjährungsfrist am 31. Juli 2012 zu laufen begann und am 30. Juli 2019 endete.
Angesichts der klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der zustimmenden Lehrmeinungen (vgl. oben 1.2.3 i.f.), mit denen sich die Beschwerdeführerin nicht auseinandersetzt, ist ihr nicht zu folgen, wenn sie geltend macht, die Verfolgungsverjährung habe bereits 30 Tage nach der letzten Auszahlung zu laufen begonnen. Wenn die Tathandlung der Steuerhinterziehung nach Art. 61 lit. a aVStG der fehlenden Deklaration und Entrichtung der Verrechnungssteuer entspricht, so geht die Beschwerdeführerin – als Folge ihrer Auffassung betreffend Art. 12 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 lit. c und Art. 38 Abs. 2 aVStG – zu Unrecht davon aus, dass die Steuerforderung mit der letzten steuerbaren Ausschüttung entstanden und 30 Tage später fällig geworden sei, vorliegend also 30 Tage nach der letzten Zahlung vom 19. Juli 2011 der massgebende Zeitpunkt der Deklarationspflicht und damit der Tatbegehung gewesen sei, sodass die Tat bereits am 19. August 2018 verjährt gewesen sei (vgl. oben E. 1.2.1). Stattdessen erwägt die Vorinstanz – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und der Lehre (vgl. oben E. 1.2.3 i.f.) – zutreffend, dass das Delikt von Art. 61 lit. a aVStG zwar durch die Nichtdeklaration und die ausgebliebene Leistung des Steuerbetrags in die Wege geleitet, aber erst dadurch bewirkt wird, dass der ESTV eine unrichtige oder gar keine Jahresrechnung eingereicht wird, d.h. hier erst am 30. Juli 2012; die siebenjährige Verjährungsfrist endete also erst am 30. Juli 2019, als die Strafverfügung vom 12. Juli 2019 bereits ergangen war. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet. Stattdessen erwägt die Vorinstanz – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und der Lehre (vgl. oben E. 1.2.3 i.f.) – zutreffend, dass das Delikt von Art. 61 lit. a aVStG zwar durch die Nichtdeklaration und die ausgebliebene Leistung des Steuerbetrags in die Wege geleitet, aber erst dadurch bewirkt wird, dass der ESTV eine unrichtige oder gar keine Jahresrechnung eingereicht wird, d.h. hier erst am 30. Juli 2012; die siebenjährige Verjährungsfrist endete also erst am 30. Juli 2019, als die Strafverfügung vom 12. Juli 2019 bereits ergangen war (E. 1.2.4)..
Dieser nicht gerade auf der Hand liegende Ansatz zum Verjährungsbeginn begründet das Bundesgericht wie folgt:
Ein Vorenthalten gemäss Art. 61 lit. a aVStG ist jedes Tun oder Unterlassen, mit welchem den im aVStG normierten Pflichten zur rechtzeitigen und korrekten Abrechnung der Verrechnungssteuer zuwidergehandelt wird. Dem Wesen der Verrechnungssteuer als Selbstveranlagungssteuer entsprechend ist der objektive Tatbestand bereits erfüllt, wenn ohne Weiteres erkennbare geldwerte Leistungen erbracht werden, ohne dass die Verrechnungssteuer spontan deklariert und entrichtet würde (BEUSCH/MALLA, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer, 2. Aufl. 2012, N. 11 zu Art. 61 VStG). Für die Tatbegehung ist damit darauf abzustellen, wann die Gesellschaft ihre Deklarationspflicht verletzt hat (vgl. Urteil 2C_638/2021 vom 10. Juni 2022 E. 3.2). Dies ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Tag, an dem die Gesellschaft ihre Jahresrechnung eingereicht hat, in welcher die steuerpflichtige geldwerte Leistung nicht verbucht ist. Die Verjährungsfrist beginnt am nächsten Tag (BGE 143 IV 228 E. 4.6.2 f.; Urteile 2C_509/2021 vom 31. August 2022 E. 4.3; A.713/1986 vom 26. März 1987 E. 5, in RDAF 1989 271). Reicht die Gesellschaft der ESTV keine Jahresrechnung ein, ist für den Beginn der Verjährung nach VStrR auf den Ablauf der 30-tägigen Deklarationsfrist gemäss Art. 21 Abs. 1 VStV abzustellen (Urteil 2C_822/2021 vom 26. Januar 2022 E. 5.3; vgl. OESTERHELT/FRACHEBOUD, in: Basler Kommentar, Verwaltungsstrafrecht, 2020, N. 23 zu Art. 11 VStrR; STEFAN OESTERHELT, Verjährung der Verrechnungssteuer, EF 2017 S. 537; DERSELBE, FStR, 2022, S. 271 f.). Hält die Gesellschaft keine Generalversammlung ab, welche die Jahresrechnung genehmigen könnte, beginnt die Verjährungsfrist 30 Tage nach dem gemäss Art. 699 Abs. 2 OR (für die AG) bzw. Art. 805 Abs. 2 OR (für die GmbH) spätesten Termin für die ordentliche Generalversammlung (d.h. sechs Monate nach Ende des Geschäftsjahres) zu laufen (Urteil 2C_638/2021 vom 10. Juni 2022 E. 3.1.1 und E. 3.2; OESTERHELT/FRANCHEBOUD, a.a.O., N. 23 zu Art. 11 VStrR; OESTERHELT, EF, a.a.O., S. 537; DERSELBE, FStR, 2022, S. 271 f. und S. 488 ff.) [E: 1.2.3].
Darauf muss man zuerst kommen. Aber wenn es um Geld geht, kenn die Justiz keine Zurückhaltung bei der Auslegung zuungusten der Bürger.
Das Hauptproblem von VStrR-Verfahren ist abgesehen von der Schuldvermutung (!) die doppelt fehlende Unabhängigkeit. Die stets im Geheimen operierende ASU/ESTV ist nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht unabhängig, trotzdem erstellt sie den rechtserheblichen Sachverhalt und entscheidet gleich auch noch erstinstanzlich – deshalb doppelt fehlende Unabhängigkeit. Danach kann der Betroffene zwar die gerichtliche Beurteilung verlangen, aber in diesem „unabhängigen“ Gerichtsverfahren wird wiederum völlig unkritisch auf den ASU-Sachverhalt abgestellt. So ist in keinem Gerichtsverfahren mit einer korrekten Beweiserhebung und/oder eigenen Beweisabnahmen zu rechnen. Zeugen werden kaum je geladen. Die offenkundig fehlende Unabhängigkeit der ASU/ESTV als strafende Behörde scheint in der Schweiz erstaunlicherweise niemanden zu stören. Es gibt nun allerdings seit kurzem einen Fall vor den EGMR genau zu dieser Problematik (fehlende Unabhängigkeit der ASU), der erstmals von Gerichtshof zum Verfahren zugelassen wurde – der Endentscheid ist natürlich noch offen, aber allein die Zulassung durch den EGMR gilt als Meilenstein. Man darf gespannt sein, wie sich der Rechtsstaat Schweiz aus dieser Affäre ziehen will. Der „Spielraum“ für die ESTV in Verwaltungsstrafsachen wird jedenfalls deutlich kleiner werden….zuliebe der Rechtstaatlichkeit und fair trial.
Spannend! Wollen wir uns darüber einmal austauschen?
Gerne, das Thema ASU/ESTV und generell Steuerstrafverfahren “beschäftigt” interessanterweise wenig Juristen, dabei sind die Folgen und vor allem die Sanktionen regelmässig drakonisch. Warum ist das Interesse so gering?
An einem Austausch und Beiträgen zu mehr Rechtstaatlichkeit in solchen Verfahren bin ich immer interessiert.
Beste Grüsse MW