Was bleibt vom Anklageprinzip?
Das Bundesgericht scheint die Bedeutung des Anklageprinzips mehr und mehr zurückzubilden, obwohl es weiterhin seinen berühmten BGE 120 IV 348 ziterit. In vielen Entscheiden scheint das Bundesgericht nur noch zu prüfen, ob der Beschuldigte “wusste, was ihm vorgeworfen wird”. Nicht diskutiert wird jeweils, dass die Informationsdichte für die Verteidigung entscheidend ist. Je vager der Vorwurf desto schwieriger die Verteidigung. In einem neuen Entscheid gesteht das Bundesgericht zu, dass die Vorwürfe vage sind, lässt sie aber dennoch genügen (BGer 6B_254/2013 vom 01.07.1013):
Im Überweisungsbeschluss der Staatsanwaltschaft werden dem Beschwerdeführer Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen, die er mehrfach “in Witzwil, Ittigen, Bern, Genf, Zürich, Gambia, Amerika und anderswo” mengenmässig qualifiziert und bandenmässig mit drei namentlich bezeichneten Mittätern begangen habe. In zehn Anklagepunkten wird unter Verweis auf zahlreiche Aktenstellen aufgeführt, in welchen Zeiträumen der Beschwerdeführer welche Mengen Kokaingemisch gekauft, eingeführt, verkauft und vermittelt oder Anstalten dazu getroffen habe. Es trifft zu, dass die Vorwürfe im Überweisungsbeschluss sowohl zeitlich als auch mengenmässig vage erscheinen. Dennoch wird der Anklagevorwurf unverwechselbar und genügend konkret gekennzeichnet. Aus den Verweisen auf diverse Aktenstellen lassen sich die angeklagten Taten näher eingrenzen. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von jenem, der dem Urteil 6B_1067/2009 vom 31. Mai 2010 zugrunde lag, worauf sich der Beschwerdeführer beruft. Er wusste, was ihm vorgeworfen wird, und wurde von den Vorwürfen nicht überrascht. Er konnte sich daher in einem fairen Verfahren wirksam verteidigen. Die Rüge ist unbegründet (E. 1.3, Hervorhebungen durch mich).
Ob der Fall nach neuem oder nach altem Recht zu beurteilen war, konnte ich dem Entscheid nicht entnehmen. Die StPO wird kein einziges Mal zitiert.
Im eingangs zitierten BGE (zum alten BStP) war übrigens in Bezug auf Aktenverweise noch folgendes zu lesen:
Die präzise Bezeichnung der Beweismittel ermöglicht dem Angeklagten, schon in der Verteidigungsschrift Einwendungen gegen die Beweise als solche bzw. die Qualität derselben geltend zu machen. Die Anklageschrift hat daher die Beweismittel einzeln anzuführen, d.h. Zeugen und Sachverständige mit Namen zu nennen und die einzelnen Urkunden genau zu bezeichnen. Der blosse Verweis auf die Akten der Voruntersuchung ist ungenügend (STOOSS, Kommentar zur Militärstrafgerichtsordnung, Bern 1915, Art. 124 MStGO, N. 6) [E. 3e].
Meines Erachtens wurde das Anklageprinzip und die für Anklagen geforderte Informationsdichte in letzter Zeit etwas zu sehr hochstilisiert, sodass eine Rückkehr zu einem vernünftigen Mass nur dadurch erreicht werden kann, dass das Bundesgericht die Anforderungen etwas heruntersetzt.
Mit dem Anklageprinzip wird auch die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens heruntergesetzt. Nebst Informations- und Umgrenzungsfunktion zwingt ein streng gehandhabtes Anklageprinzip die Strafverfolger zu sorgfältiger und exakter Arbeit. Dagegen kann man wohl kaum etwas haben.
Ich bin schon auch für eine strenge Handhabung des Anklageprinzips, aber soll seine Funktion erfüllen und nicht darüberhinaus zum wichtigsten Verteidigungsinstrument überhaupt werden. Der Beschuldigte muss wissen, was ihm vorgeworfen wird, ganz klar, und er muss es auch möglichst genau wissen, aber nur darauf zu warten, an der hauptverhandlung die Verletzung des Anklageprinzips zu rügen, nachdem sich der Beschuldigte während des ganzen vorverfahrens verteidigen konnte und wusste, was ihm vorgeworfen wird, kann kein Teilbereich des Anklageprinzips sein (das ist jedenfalls meine Meinung).
Das Anklageprinzip hat nun aber auch noch andere und mindestens so wichtige Funktionen wie diejenige der Information. Bei der Information geht es übrigens ja praktisch je darum, dass der Beschuldigte nicht weiss, was ihm vorgeworfen wird. Kritisch ist v.a., wenn er es nicht genau weiss. Je vager die Anklage je schwieriger die Verteidigung. BGE 120 IV 348 hat alles wunderbar definiert und es gibt keinen sachlichen Grund, davon abzuweichen. Es gibt insb. keinen Grund, schwache schwammige Anklagen ‘zuzulassen’.
Dagegen gibt’s selbstverständlich nichts einzuwenden.
Angesichts des eklatanten strukturellen Ungleichgewichts zwischen den Strafverfolgern und dem Angeschuldigten (Verteidiger) sowie der immer grösseren Regelungsdichte – das Risiko sich strafbar zu machen steigt und steigt – wäre ein strenges Anklageprinzip (bzw. die Befolgung von Art. 9 StPO) erforderlich. Das BGer sieht das offenbar anders und urteilt einmal mehr sehr strafverfolgungsfreundlich (immerhin bleibt es insofern seiner Linie treu).