Was gehört zur Anklage?

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 Abs. 1 StPO) bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Was die Anklageschrift ihrerseits enthalten muss, definiert Art. 325 StPO. Daneben kann die Anklageschrift weitere Angaben und Anträge enthalten, insbesondere einen Schlussbericht, in dem die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt erläutern (nicht erweitern!) kann (Art. 326 StPO). Dies scheint das Bundesgericht allerdings anders zu sehen, wenn es in einem neuen Entscheid (BGer 6B_654/2014 vom 14.10.2014) folgende Erwägung publiziert:

Zum angeklagten Sachverhalt gehört vorliegend sowohl der in der Anklageschrift wiedergegebene Auszug der E-Mail des Beschwerdeführers als auch die ergänzenden Ausführungen der Staatsanwaltschaft. Gemäss Letzteren habe der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner mit der E-Mail veranlassen wollen, die Geschäftstätigkeit der C. GmbH zu stören, indem er den Betrieb ihres Internetportals sabotiert. Aus dem Wortlaut der E-Mail ergibt sich demgegenüber, dass der Beschwerdegegner hätte verhindern sollen, dass D. beziehungsweise die C. GmbH die Kunden der Regionen March und Höfe anschreibt. Die Vorinstanz geht nicht über den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt hinaus, wenn sie ausführt, der Beschwerdeführer habe mit der E-Mail erreichen wollen, dass der Beschwerdegegner die vergleichswidrige Anschreibung von Kunden verhindere (vgl. Urteil S. 7 E. 4a) [E. 1.4].

Das Bundesgericht zitiert in seinem Entscheid das fragliche E-Mail …

(…) wenn du in den nächsten Tagen in den Zeitungen des Kantons erscheinen willst, dann lass einfach zu, dass D widerrechtlich und vertragswidrig die Kunden von March und Höfe anschreibt (…).

… und den Vorhalt gemäss Anklage:

Gemäss Anklage habe X mit der E-Mail erreichen wollen, dass A. – als Kontaktperson der C. GmbH – gegen seinen Willen deren Geschäftstätigkeit störe, indem er den Betrieb ihres Internetportals in den Regionen March und Höfe sabotiere. Sollte sich A. weigern, habe X wissentlich und willentlich den Gang an die Öffentlichkeit angedroht. Da negative Presse für A. nachteilig gewesen wäre, habe er die Drohung ernst genommen. Er habe jedoch auf die E-Mail nicht reagiert.

Die Verurteilung konnte somit nur gerettet werden, indem die “ergänzenden Ausführungen”, was immer darunter zu verstehen ist, zur eigentlichen Anklage mutierten. Kaum zu bestreiten ist demgegenüber, dass das fragliche E-Mail den Vorhalt gemäss Anklage nicht erfüllt und auch nicht erfüllen kann. Der Kunstgriff des Bundesgerichts hätte die eine oder andere Erwägung über die Natur der “ergänzenden Ausführungen” der Staatsanwaltschaft verdient. Ohne solche Erwägungen erscheint mir der Entscheid schlicht und ergreifend als falsch.

Nur am Rand: Das Bundesgericht hält ausdrücklich fest, der Beschwerdeführer habe als Gehörsverletzung gerügt, dass sich die Vorinstanz mit dem eigentlichen Anklagevorwurf (s. oben) nicht auseinandergesetzt habe. In Erwägung 1.4 sagt es dann:

Es ist weder ersichtlich noch gerügt, dass der Beschwerdeführer in seinen Verteidigungsrechten beeinträchtigt oder sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden wäre (Hervorhebungen durch mich).

Und noch was: wieso erwähnt das Bundesgericht überhaupt Umstände, die weder ersichtlich noch gerügt sind?