Was ist ein leichter Fall i.S.v. Art. 148a Abs. 2 StGB?
Das Bundesgericht gesteht einer Putzfrau, die unrechtmässig Sozialhilfe bezogen hatte (Deliktsbetrag leicht über CHF 3,000.00), einen leichten Fall i.S.v. Art. 148 Abs. 2 StGB zu und hebt das Urteil der Vorinstanz auf (BGer 6B_1246/2020 vom 16.07.2021). Ob der von der SSK vorgeschlagene Grenzwert von CHF 3,000.00 für die Annahme eines leichten Falls massgebend sein soll, lässt das Bundesgericht offen. Es konzentriert sich auf andere Elemente, welche die Schuld der Beschwerdeführerin reduzieren sollen:
Fest steht, dass die Beschwerdeführerin diesen Betrag nur geringfügig überschritten hat, was, wie sie zu Recht vorbringt, einen ersten Hinweis auf eine minder schwere Tat darstellt. Die Feststellung der Vorinstanz, wonach dieser Betrag “weit höher liegen dürfte” ist, wie von der Beschwerdeführerin ebenfalls zutreffend geltend gemacht, eine unbelegte Vermutung. Darüber hinaus ist der Deliktsbetrag wie bereits dargelegt nicht der einzige Indikator für die Schwere des für die Prüfung eines leichten Falls relevanten Verschuldens. Bei dessen Beurteilung hält die Vorinstanz zwar zu Recht dafür, dass die Vergangenheit der Beschwerdeführerin, namentlich der Umstand, wonach sie gegenüber den Sozialhilfebehörden bereits im Jahr 2011 einmal Lohneinkünfte verschwiegen hat, negativ ins Gewicht fällt. Festzuhalten ist jedoch auch, dass es nie zu einer einschlägigen Verurteilung kam. Abseits dessen handelte die Beschwerdeführerin mit geringer krimineller Energie. So wirkte sie, wie auch die Vorinstanz erkennt, nicht aktiv auf den Taterfolg hin, sondern beging die Tat durch das Verschweigen von weiterem Einkommen und damit durch Unterlassen. Dabei stellt die Vorinstanz in subjektiver Hinsicht nur eventual- und nicht direkt vorsätzliches Handeln fest. Darüber hinaus gab die Beschwerdeführerin die streitigen Einkünfte beim RAV von sich aus und in korrekter Weise an. Namentlich weil das Arbeitslosentaggeld direkt an den Sozialdienst ausbezahlt wurde und somit eine gewisse Verbindung zwischen den beiden Behörden bestand, musste die Beschwerdeführerin jederzeit damit rechnen, dass der Sozialdienst vom RAV über ihre Beschäftigung bei der C. informiert wird. Damit hat sie die Möglichkeit, aufzufliegen, gewissermassen selber geschaffen. Hinzu kommt, dass die Rolle der zuständigen Sachbearbeiterin des Sozialdienstes nicht restlos geklärt ist und diese auch nach Auffassung der Vorinstanz eine gewisse Mitverantwortung trifft, hätte sie doch aufgrund der Schwankungen in der Höhe des ausbezahlten Arbeitslosentaggelds skeptisch werden und reagieren müssen. Die dem Sozialdienst anzulastende Mitverantwortung schmälert das Verschulden der Beschwerdeführerin zusätzlich. Schliesslich gilt es zu konstatieren, dass die Beschwerdeführerin gemäss Feststellungen der Vorinstanz am Rande des Existenzminimums lebt (…). Sie hat das bezogene Geld denn auch nicht für den Erwerb irgendwelcher Luxusgüter aufgewendet, sondern ihrem Sohn damit ein Bett gekauft (vgl. angefochtenes Urteil S. 19). Ihre Beweggründe sind somit tendenziell zu ihren Gunsten auszulegen. Vor diesem konkreten Hintergrund hätte die Vorinstanz gesamthaft gesehen von einem leichten Fall im Sinne von Art. 148a Abs. 2 StGB ausgehen müssen. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet (E. 4.4, Hervorhebungen durch mich).
Das alles hat doch nicht mit der Schwere der Schuld zu tun, sondern mit der Frage, ob überhaupt eine Täuschung vorlag. Die Frau hat die Einkünfte dem RAV korrekt gemeldet und das RAV hat direkt an den Sozialdienst ausbezahlt. und zudem: wie will man sie verurteilen, wenn man die Rolle der Sachbearbeiterin des Sozialdienstes “nicht restlos geklärt” hat? Das Bundesgericht hat hier wohl einfach eine Art Mittelweg gesucht, was im Strafrecht in der Regel nicht zu richtigen Ergebnissen führt. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass hier in einem Straffall zu wenig Strafrecht gemacht wurde.
Spannend und Teilweise anlehnend ans Sozialversicherungsrecht, dort muss sich zB die eine Behörde anrechnen lassen was eine andere wusste wenn Sie zB Rückerstattungsverfügungen zur EL erlässt
Im Sozialversicherungsrecht muss sich in der Regel eine Behörde nicht das Wissen einer anderen Behörde anrechnen lassen (z.B. wenn etwas rechtzeitig an eine andere Behörde gemeldet wurde oder eine andere Behörde bereits über eine Änderung des Sachverhalts verfügt hat und das Auswirkungen auf die Sozialversicherungsleistungen der anderen Behörde hat). Ein Übersehen einer durch den Bezüger der EL rechtzeitig erfolgten Meldung eines geänderten Sachverhalts durch die Behörde führt nicht einmal dazu, dass die Verwirkjngsfrist für die Erstellung einer Verfügung über die Pflicht zur Rückerstattung der zu viel bezogenen EL zu laufen beginnt. Erst wenn die Behörde zum zweiten Mal den Fehler erkennen könnte (z.B. wenn der geänderte Sachverhalt auch vom Bezüger in einem Formular für die periodische Überprüfung angegeben wird) beginnt die Verwirkjngsfrist für die Erstellung einer Verfügung über die Rückerstattung zu laufen.
Gemäss der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird nicht eine tatsächliche Kenntnisnahme der Unrechtmässigkeit des Leistungsbezugs verlangt, sondern es reicht aus, dass der Versicherungsträger bei Beachtung der zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen; falls ein Zusammenwirken mehrerer Behörden notwendig ist, wird eine genügende Kenntnis angenommen, wenn diese bei einer der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist (vgl. BGE 119 V 433).
Als Laie ist mir völlig unverständlich wie einer ausländischen Putzfrau, der eine geringe kriminelle Energie unterstellt wird und die am Rande des Existenzminimums lebt eine 5-jährige Landesverweisung aufgebrumt werden kann. Natürlich hat diese irgendwie gemerkt, dass sie plötzlich mehr Geld zur Verfügung hatte und sich darüber gefreut und dem Sohn ein Bett gekauft.
Der Freispruch des Bezirksgericht war sowohl ein Gnade vor Recht und in dubio pro reo Entscheid weil der Geldsegen vor allem durch die Schlamperei bei den Behörden zu Stande gekommen ist bezeichnederweise konnten diese nicht mal den genauen Deliktsbetrag bzw. Verlust angeben.
Die Landesverweisung von 5 Jahren für ein geringes Vergehen steht in keinem Verhältnis zu den 8 Jahren für eine Tötung. Auf der Website von suedostschweiz.ch vom 17.12.20 ist zu lesen:
“Das Bundesgericht hat die Freiheitsstrafe von sieben Jahren und eine Landesverweisung von acht Jahren für einen heute 53-jährigen Montenegriner bestätigt. Der Mann tötete im Oktober 2017 seine Ehefrau mit einem Messer. Der jüngste Sohn war zwölf Jahre alt, als der Verurteilte vor seinen Augen die Mutter erstach”. (Urteil 6B_1087/2020 vom 25.11.2020)
Ist dieser gesamte Verhältnisblödsinn einfach nur das Resultat eines übereifrigen Staatsanwalt und pflichtbewussten oder genervten Oberrichtern oder fehlt es schlicht am gesunden Menschenverstand und vielleicht etwas Barmherzigkeit!
Und wieso konnte das ganze nicht wenigstens im Strafbefehlsverfahren erledigt werden? Da kommen gewiss viel kriminellere und gefährliche Ausländer ohne eine Landesverweisung davon.
Interessant: die opfermitverantwortung spielt nun doch eine rolle. Einfach nicht beim tatbestand an sich, sondern bei der frage des “leichten falls”. Eigentlich müsste die frage der opfermitverantwortung aber schon bei der frage geprüft werden, ob die täterin überhaupt leistungen ertäuscht (gibts dieses wort?) hat. Ich teile Ihre meinung mit dem mittelweg und nicht wirklich strafrecht: das motto war wohl: wir schieben alles auf den leichten fall, dann gibts keinen landesverweis und gut ist.
Jetzt anonymisiert das Bundesgericht schon die erste Instanz? Faszinierend.