Weisheit des Tages

Weisheiten stützen sich ab und an auch auf höchstrichterliche Rechtsprechung. Hier ein Beispiel aus einer Beschwerdesache, die aussergewöhnlich lang vor Bundesgericht hängig war und dann doch als offensichtlich aussichtslos qualifiziert wurde (BGer 6B_1250/2014 vom 29.09.2015):

Wer einen Taschendiebstahl begeht, hat bekanntlich die Bereitschaft, das zu nehmen, was ihm in die Hände fällt und erhofft sich eine möglichst grosse Beute (vgl. BGE 123 IV 155 E. 1b; BGE 123 IV 197 E. 2c) [E. 3.3, Hervorhebungen durch mich].

Maliziös könnte man hier einwenden, dass kein Dieb sein kann, wem Vermögenswerte in die Hände fallen, aber darum geht es mir hier nicht.

Ich will hier nur darlegen, dass das Bundesgericht vor 20 Jahren noch wesentlich differenzierter begründete und in BGE 123 IV 155 immerhin noch zugestand,

dass Art. 172ter StGB auch bei einem Taschendiebstahl anwendbar sein kann. Der Vorsatz kann auch hier auf einen geringen Vermögenswert im Sinne dieser Bestimmung gerichtet sein. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Täter beobachtet, wie ein Dritter dem Opfer eine Hundertfrankennote übergibt, und der Täter dem Opfer anschliessend die Note aus der Tasche zieht. Die konkreten Umstände müssen daher auch bei einem Taschendiebstahl geprüft werden. Ob sich der Vorsatz auf einen geringen Vermögenswert richtete, bleibt aber eine Beweisfrage, die im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nicht zur Diskussion gestellt werden kann (E. 1.b).

Interessant auch der zweitzitierte BGE 123 IV 197 über Gewohnheiten alter Leute:

Die Auffassung, ältere Leute, die das Tram besteigen, hätten in der Regel weniger als Fr. 300.– bei sich, entspricht in dieser absoluten Form nicht der Lebenserfahrung. Vielmehr wird man genaue Aussagen darüber, wieviel Geld ältere Leute bei sich haben, die an der Zürcher Bahnhofstrasse das Tram besteigen, gar nicht machen können. Es ist anzunehmen, dass der Täter, der wie der Beschwerdegegner jemandem beim Einsteigen ins Tram behilflich ist und ihm bei dieser Gelegenheit das Portemonnaie entwendet, die Absicht hat, einen Betrag in unbestimmter Höhe zu stehlen, der sehr wohl Fr. 300.– übersteigen kann. Es entspricht auch nicht der Lebenserfahrung, dass heutzutage ältere Leute anstelle von Bargeld Kreditkarten mit sich tragen. Selbst soweit das der Fall sein sollte, schliesst dies nicht aus, dass sie Bargeld in Höhe von mehr als Fr. 300.– bei sich haben. Im übrigen wird man beim Diebstahl eines Portemonnaies nicht nur auf den Bargeldbetrag, der sich im Portemonnaie befindet, abstellen dürfen. Man wird vielmehr den Wert des Portemonnaies mitsamt Inhalt – wozu neben Bargeld auch Kreditkarten und Ausweise gehören können – in Rechnung stellen müssen. Dabei kann heute offenbleiben, welche Beträge für Kreditkarten und Ausweise einzusetzen sind. Vieles spricht dafür, hier den Verlust, den das Opfer erleidet, in Rechnung zu stellen, also zumindest die Kosten für die Wiederbeschaffung. Insoweit wird beim Täter in der Regel Schädigungsvorsatz mindestens in Form des Eventualvorsatzes anzunehmen sein.

Im Ergebnis ist dann halt doch die schematisch wirkende aktuelle Rechtsprechung richtig: Der Dieb nimmt, was ihm in die Hände fällt. Es grüsst der Eventualvorsatz.