Weiterer Grundsatzentscheid zur Parteiöffentlichkeit (Teilnahmerechte)

In einem zur Publikation in der AS vorgesehenen Urteil (BGE 6B_450/2014 vom 18.05.2015) bestätigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Parteiöffentlichkeit des Vorverfahrens in BGE 139 IV 25.

Damit können nun auch im Kanton Aargau die Teilnahmerechte durchgesetzt werden, die von einem Teil der Staatsanwälte auf das blosse Konfrontationsrecht reduziert werden. Dass damit Effizienzverluste verbunden sein können, ist dem Bundesgericht ausdrücklich klar:

Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit bei Einvernahmen von mitbeschuldigten Personen kann allerdings unter Umständen zu Effizienzverlusten und zu gewissen prozessualen Ungleichbehandlungen von Mitbeschuldigten führen. Die Strafprozessordnung enthält indessen mehrere Bestimmungen, durch deren Anwendung das Problem entschärft werden kann (siehe im Einzelnen BGE 139 IV 25 E. 5.4). Das Bundesgericht hat ausserdem in einem  “obiter dictum” die Frage aufgeworfen, aber nicht abschliessend beantwortet, ob in Anbetracht des Kontextes zwischen dem Teilnahmerecht bei Beweiserhebungen (Art. 147 Abs. 1 StPO) und dem Akteneinsichtsrecht (Art. 101 Abs. 1 StPO) quasi in analoger Anwendung von Art. 101 Abs. 1 StPO und in teleologischer Reduktion von Art. 147 Abs. 1 StPO eine beschuldigte Person an der Einvernahme einer mitbeschuldigten Person nur teilnehmen kann, wenn sie selber in einer Einvernahme bereits mit dem Sachverhalt konfrontiert wurde, welcher der mitbeschuldigten Person in der Einvernahme vorgehalten wird (BGE 139 IV 25 E. 5.5.4;  ablehnend ERNST REBER, Das Teilnahmerecht des Beschuldigten an Einvernahmen Mitbeschuldigter, Anwaltsrevue 2012, S. 293 ff, 299; ANDREAS NOLL, a.a.O., S. 46 ff., 100). Ausnahmen von der durch Art. 147 Abs. 1 StPO gewährleisteten Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen können sich sodann aus verschiedenen Bestimmungen ergeben, im Besonderen aus Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO bei begründetem Verdacht des Rechtsmissbrauchs durch eine Partei, aus Art. 146 Abs. 4 lit. a StPO im Falle einer Interessenkollision sowie aus Art. 149 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 lit. b StPO zum Schutz der einzuvernehmenden Person (siehe zum Ganzen im Einzelnen BGE 139 IV 25 E. 5.5.6 – E. 5.5.10).

Wohl ebenso wichtig ist eine andere Erwägung des Bundesgerichts. Danach verzichtet nicht auf die Teilnahmerechte, wer auf eine Beschwerde verzichtet. Das erscheint mir zwar als offensichtlich, wird von der Justiz aber immer wieder geltend gemacht, nicht nur vom Obergericht des Kantons Aargau, welches das Bundesgericht korrigiert:

Aus dem Umstand, dass die Beschuldigte Y. den Beschwerdeentscheid des Obergerichts nicht anfocht, kann nicht auf einen Verzicht auf die Gewährung von Teilnahmerechten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO geschlossen werden. Die Beschuldigte Y. konnte auf der Grundlage der damaligen bundesgerichtlichen Rechtsprechung und in Anbetracht der Erwägungen im Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts von einer Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gegen den Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts in guten Treuen in der Überlegung absehen, dass die Fragen, ob ihre Rechte auf Teilnahme an Einvernahmen von Mitbeschuldigten verletzt worden seien und welche Konsequenzen sich aus einer allfälligen Verletzung der Teilnahmerechte bezüglich der Verwertbarkeit von belastenden Aussagen ergeben, allein im Hauptverfahren vor dem Sachgericht zur Entscheidung gestellt werden konnten und dass das Bundesgericht auf eine Beschwerde gegen den Zwischenentscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) nicht eingetreten wäre (…). Mit diesem Argument begründete der Verteidiger der Beschuldigten Y. in seinem 2. Vortrag an der Berufungsverhandlung, weshalb von einer Beschwerde in Strafsachen gegen den Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts abgesehen worden war. Darauf geht die Vorinstanz nicht ein (E. 3.2).

Das Urteil wird einen neuerlichen Aufschrei bei den Strafverfolgern auslösen und die Forderungen nach einer Änderung des Gesetzes bekräftigen.