Weiterhin keine Teilnahme der Verteidigung bei Explorationsgesprächen
Das Bundesgericht bestätigt seine bisherige Rechtsprechung gemäss BGE 144 IV 253 und lässt sich auch von einer aktuellen wissenschaftlichen Publikation (vgl. meinen früheren Beitrag zur hervorragenden Dissertation von Thierry Urwyler) nicht umstimmen. Es schliesst die Teilnahme der Verteidigung zwar nicht grundsätzlich aus (womit es übrigens seine eigene Argumentation ad absurdum führt), betont aber die gebotene Zurückhaltung, die in der Praxis dann eben doch zum absoluten Ausschluss führt. Ziel erreicht:
Ein voraussetzungsloser Anspruch auf Zulassung der Verteidigung an der psychiatrischen Exploration lässt sich auch aus der Bundesverfassung (Art. 29 Abs. 1-2 und Art. 32 Abs. 2 BV) und der EMRK (Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 EMRK) nicht entnehmen. Ein entsprechendes Anwesenheits- und Mitwirkungsrecht (im Sinne von Art. 147 und Art. 158 f. StPO) bei der Erstellung des forensischen Gutachtens (Art. 185 StPO) könnte sich höchstens in sachlich begründeten Ausnahmefällen aufdrängen, falls die grundrechtlich garantierten Verteidigungs- und Gehörsrechte des Beschuldigten anders nicht wirksam wahrgenommen werden könnten (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 262 und S. 264 f.). Nach der Praxis des Bundesgerichtes drängt sich dabei allerdings Zurückhaltung auf: Insbesondere ist der Gefahr Rechnung zu tragen, dass gesetzlich nicht vorgesehene direkte Einflussnahmen auf den psychiatrischen Expertisevorgang durch Personen, die nicht als Sachverständige bestellt wurden (zumal durch medizinisch nicht fachkundige Personen), den Zweck einer fachgerechten forensischen Begutachtung beeinträchtigen oder gar vereiteln könnten (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 263; s.a. BGE 132 V 443 E. 3.5 S. 446 f.) [E. 3.2].
Es ist schwer vorstellbar, dass das Bundesgericht selbst von dieser Rechtsprechung überzeugt ist. Es ist mit Händen greifbar, dass es um ganz andere, nicht juristische Überlegungen geht, die man aber nicht in ein höchstgerichtliches Urteil schreiben kann. Sein juristisches Restgewissen beruhigt es wie folgt:
Selbstbelastende Äusserungen des Beschuldigten bei einem psychiatrischen Explorationsgespräch dürfen diesem nicht wie Beweisaussagen zum inkriminierten Sachverhalt im Verhör (Art. 157 StPO) vorgehalten werden (BGE 144 I 253 E. 3.7 S. 260 f.).
Eines der Probleme liegt darin, dass die forensisch-psychiatrische Begutachtung notwendigerweise auf der Hypothese der Täterschaft fusst. Es ist daher gar nicht möglich, dass ein Beschuldigter bei der Begutachtung mitwirkt, ohne sich selbst zu belasten.
Ein überzeugendes und richtiges Urteil des BGer. Die Argumente leuchten ein, ausser man ist Strafverteidiger?.
Der Verteidiger hätte sich die Mühe aufgrund des erwähnten Leitentscheids sparen können. Immerhin hat er noch Fr. 1‘500.— erhalten, obwohl die Aussichtslosigkeit ja evident war. Trotzdem schade um die Mühen von Herrn Urwyler. Immerhin hat er sich bei diesem Thema einen Platz als bekannter Autor bei den „Minderheitsmeinungen“ in der herrschenden Lehre gesichert.
@Anonymous: Verteidiger/Staatsanwälte sollten also gar nicht erst versuchen, Leitentscheide infrage zu stellen? Die dem BGer beim Leitentscheid noch nicht bekannten Argumente von Urwyler sind einfach deutlich besser begründet und im Gegensatz zu denjenigen des BGer überzeugend. Ich verlange ja nicht, dass das BGer dissertationsfähige Urteilsbegründungen verfasst. Aber eine wenigstens kurze Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen darf man m.E. bei einer derart wichtigen Frage erwarten. Die Praxis wird dazu führen, dass Exploranden nicht mehr mitwirken und dann aufgrund von Aktengutachten – hier muss zuvor noch eine Praxisänderung gemacht werden, damit Aktengutachten immer zulässig sind – jahrelang eingesperrt werden.
Und noch was, Anonymous: wieso sollte das Urteil nur Strafverteidigern nicht einleuchten? Sind wir weniger einsichtig als andere? Oder glauben Sie, wir kämpften für die Teilnahmerechte, weil wir Spass daran haben, stundenlangen Gesprächen beizuwohnen?
Nein, Verteidiger verlangen das, weil sie hier einfach und ohne etwas zu tun sehr viel Geld verdienen können. Abgesehen davon müsste dann auch die Klägerschaft dabei sein. Das Resultat wäre eine teure, unnötige und zeitraubende Verbürokratisierung und Verjuristisierung der forensischen Psychiatrie. Die Prozesse würden weiter verlängert. Das Problem stellt sich im übrigen in der Praxis kaum. Und wenn es sich stellen würde, könnte man von den Gutachtern verlangen, dass sie die Exploration auf Band aufzeichnen. Im Zweifelsfall kann Mitschnitt abgehört werden.
@Alex Baur: Der Vorschlag mit dem Mitschnitt wäre ja schon mal ein Riesenfortschritt, und zwar nicht nur bei Explorationsgesprächen, sondern auch bei normalen Einvernahmen. Haben Sie sich mal gefragt, wieso dies nur die Verteidiger fordern, alle andern aber vehement ablehnen? Dass Sie, Herr Baur, ausgerechnet in diesem Bereich auf der Seite der Macht stehen, akzeptiere ich natürlich, aber wundert mich doch sehr. Und noch ein Tipp: Verteidiger, die ihre Ärsche an Einvernahmen oder ähnlichen Veranstaltungen plattdrücken, sind jetzt aber mit Sicherheit nicht diejenigen, die „sehr viel Geld verdienen“. Der Stundenansatz der Gutachter liegt teilweise bei über CHF 400.00. Derjenige der Verteidiger – es sind fast ausnahmslos Pflichtverteidigungen – zum Beispiel in Solothurn CHF 180.00. Das deckt nach mehreren Untersuchungen ganz knapp die Kosten.
das problem der schuldhypothese bei begutachtungen könnte durch ein schuldinterlokut vermieden werden. oder der gutachter muss rechtlich zwingend zwei varianten (tatbestand erfüllt/nicht erfüllt) beim gutachten machen. denn selbst bei teilfreisprüchen bildet das hernach teilfalsche gutachten regelmässig grundlage der therapie. meines erachtens ist das ein haltloser zustand, der dringend geändert werden muss. gleich wie die anwesenheit von verteidigern bei explorationen: jemand muss die begutachtungen überwachen, sonst führen sich teils gutachter auf wie gott persönlich…so berichten jedenfalls nicht wenige exploranden…
Bücher und Dissertationen kann jeder schreiben. Und es gibt viele. Glaube nicht, dass sich das BGer mit jeder anderen Ansicht – auch nicht im Ansatz – auseinandersetzen muss. Das heisst selbstverständlich nicht, dass es Praxisänderungen geben kann, ja sogar muss. Zudem: wenn wir uns alle ganz kurz Mühe geben, die ganze Problematik objektiv zu sehen (weder als Verteidiger, Richter, Schreiber, StA, Privatkläger, Gutachter, Professor, etc.), leuchten die erwähnten Argumente ein, weshalb die Teilnahmerechte hier nicht 1:1 angewendet werden können.
Hingegen: Ton/Video-Aufzeichnungen wären durchaus eine zu prüfende Option…
Was die Verweigerung des Bechuldigten an der Mitwirkung betrifft: die nackte Wahrheit ist: es kommt sicher nicht besser für ihn am Schluss…dass sich manche Gutachter „wie Gott“ aufführen, ist nicht akzeptierbar. Genau so könnten sich aber auch StA oder Richter verhalten…schwarze Schafe gibt es immer. Sicher aber ist das nicht der Normalfall. Und dass der Beschuldigte (und oftmals dessen Verteidiger) dies bei einer Verurteilung so sieht, war schon immer so und wird auch immer so bleiben.
@Anonymous: Dann lesen Sie doch einfach die Diss Urwyler und vertreten Sie ein paar Dutzend Beschuldigte, denen eine Massnahme droht. Es reicht vielleicht auch, mit ein paar Betroffenen zu sprechen oder ein paar Gutachten kritisch zu lesen. Wäre gespannt, wie Sie danach denken. Das gibt dann vielleicht auch kein objektives Bild, aber das haben Sie jetzt genauso wenig wie bspw. ein Strafverteidiger.
Die Rechtsprechung überzeugt mich. Es kann doch nicht sein, dass Vertreidiger, die schliesslich nur einen Auftrag haben, nämlich das Beste (also Freispruch, Verzicht auf Massnahme etc.) für ihren Klienten heraus zu holen, Einfluss auf einen klar abgegrenzten Auftrag eines Sachverständigen nehmen können! Ich stelle mir schon vor, dass gewisse Verteidiger an Explorationsgespräche dazwischenrufen und ihren Klienten dazu auffordern, zu gewissen Fragen nichts zu sagen. Das geht nicht!
@HP Seipp: Was das Beste ist, entscheidet nicht der Verteidiger, sondern der Klient. Freispruch/Verzicht auf Massnahme kann das Ziel sein, ist es aber oft gerade nicht. Sie wären bestimmt auch dafür, Verteidiger von allen Einvernahmen ihrer Klienten auszuschliessen, sonst rufen sie ja noch dazwischen oder beraten ihre Klienten.
Meine „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ (bzw. Senf) dazu:
@krumm: Dafür gibt es Zusatz- und Ergänzungsfragen: Fragen Sie den Gutachter doch einfach, ob sich seine Beurteilung ändert, wenn man davon ausgehen muss, dass sich bestimmte Sachverhalte nicht oder anders zugetragen haben.
@Alex Baur: Es sind nicht nur die Kosten und die oftmals ungeeigneten Platzverhältnisse (bspw. bei mehreren Anwälte für Verteidigung und Privatkläger, die teilnehmen), die ich befürchte. Die Kosten sind sowieso schon ausser Kontrolle. Es sind eher Störungen, Ablenkungen, Einschüchterungen, Einflussnahmen durch die Anwälte, wie dies leider schon in Einvernahmen immer wieder vorkommt. Wie soll ein ordentlich vereidigter Gerichtsgutachter seine Arbeit machen, wenn sich zwei gegnerische Anwälte während der Exploration ständig wegen angeblichen Suggestivfragen an den Kragen gehen. Die Kampfzone Einvernahmeraum würde dann auch auf das Arztzimmer ausgeweitet.
@Verfassungsrechtler: Wieso soll ein Gutachter nicht können, was jeder Polizist täglich kann? Wer störende Anwälte befürchtet, der müsste sich für Videoaufzeichnungen einsetzen. Die würden bestimmt auch renitente Anwälte „disziplinieren“.
Eine Frage, die ich wohl nicht verstehen werde: Wieso sind ausser den Strafverteidigern praktisch alle davon überzeugt, dass Strafrichter nicht wissen sollen, wie das Explorationsgespräch abgelaufen ist?
@kj: Weil es nicht ansatzweise zur Ausbildung und zu den Aufgaben eines forensischen Gutachters gehört, Sitzungspolizei zu spielen. Er hat auch keine Befugnis dazu.
Es widerspricht schlicht der Natur eines Gutachtens, wenn man die Begutachtung als eine Art kontradiktorische Parteiverhandlung durchführen will.
Ich denke, das ist auch fachlich von den Forensikern nicht erwünscht: Wie soll man als Psychiater eine vertrauliche Atmosphäre schaffen, um wichtige, höchstpersönliche Fragen mit dem Exploranden zu erörtern, wenn zahlreiche Zuschauer dabei sind. Da verkommt der Prozess doch zu einem Zirkus.
Gutachter legen als vereidigte, neutrale Experten Zeugnis über ihre Explorationen ab. Es gibt ferner Vollständigkeits- und Schlüssigkeitsanforderungen an Gutachten plus die Möglichkeit, den Gutachter direkt nochmals als Zeugen anzuhören. Ich verstehe wirklich nicht, was es da noch mehr brauchen sollte.
@Verfassungsrechtler: perfekt zusammengefasst!
In einem gebe ich ihnen allen recht. Das massnahmerecht nach stgb ist unerträglich geworden. M. E. Liegt das daran, dass ein thema mit prinzipien diskutiert wird, die überhaupt nicht passen. Die massnahmen sind pures verwaltungsrecht, werden aber stets strafrechtlich diskutiert. Das führt zu verwirrung und absurden ergebnissen. Würde mal endlich zugegeben, dass das verwaltungsrecht ist, würde wenigstens eine ehrliche und transparente diskussion geführt. Dann müsste man sich auch mal eingestehen, was man hier der sache nach macht, nämlich administrativhaft.
@Armin admin: das sehe ich auch so. Zurück zur absoluten Straftheorie ist aber wohl nicht mehrheitsfähig. Man mutet dem Strafrecht ja immer mehr zu, nämlich die vermeintliche Lösung aller gesellschaftlichen Probleme.
@verfassungsrechtler: es braucht schlicht und einfach eine überwachung des explorationsvorgangs.
Als früher auch forensisch tätiger Gutachter (während der Ausbildung) ist mir das Problem bekannt.
Soweit ich mich erinnere, hat in den Fällen, mit welchen ich zu tun hatte, ein Geständnis des Exploranden vorgelegen, deshalb stellte sich das Problem in den Fällen, mit denen ich zu tun hatte, nicht.
Im Prinzip könnte man folgendermassen vorgehen: Nach der polizeilichen Einvernahme und Beweisaufnahme und vor der Anklage durch den Staatsanwalt weiss man, ob der Anzuklagende/Explorand geständig ist oder nicht.
Wenn „nein“: ist die Justiz allein zuständig (für Urteil, allfälliges Strafmass und das weitere Vorgehen inkl. Schutz der Gesellschaft). Sobald ein Verurteilter während des Strafvollzugs/Verwahrung doch geständig wäre, könnte man doch eine Begutachtung durchführen.
Wenn „ja“: kann eine Exploration auch ohne Verteidiger stattfinden.
Es handelt sich meiner Meinung um eine philosophische Frage: Kann man als Täter gleichzeitig den „Luxus“ einer humanistisch-psychiatrischen Beurteilung („Du hast es zwar gemacht, aber Du kannst nichts dafür, weil Du ja krank bist“) in Anspruch nehmen und gleichzeitig schweigen/lügen/leugnen? Ich meine dezidiert: Nein. Das ist so bei JEDEM Arzt-Patienten-Kontakt: Wenn der Patient lügt, ist die Therapie nicht richtig möglich (bzw. max. oberflächlich im Sinne einer Symptombekämpfung). In solche einem Fall läge dann die Verantwortung allein beim Richter, der natürlich v. a. – bei schweren Straftaten – die Sicherheit der Bevölkerung im Auge zu halten hat. Das erhöbe grundsätzlich auch die Justiz wieder auf ihr verantwortungsvolles und eigentlich hohes Niveau und reduzierte die „Vorspurung“ eines Urteils durch Psychiatrie/Medizin – wofür Psychiatrie und Medizin nie erfunden wurden. Wir haben vergessen, und das einzugestehen, und ich äussere, als Psychiater, diese Meinung im Bewusstsein, dass Viele mich dadurch „rückständig“ finden könnten. Das bin ich aber nicht, sondern ich bin für Ehrlichkeit bzgl. Justiz und bzgl. Medizin/Psychiatrie (deren Zuständigkeit und Können) UND bzgl. Anzuklagendem/Verurteiltem/Exploranden (dem diese Sicht seine Würde zurückgäbe: dass er mitentscheiden kann, ob er „böse“ war oder „krank“, mit allen entsprechenden Konsequenzen).
@ E. S. Ich teile Ihre ansicht insofern, dass ich auch der meinung bin, das strafgericht sollte über beweisfragen (war ers oder nicht etc.) sowie über die schuldfrage und ein allfälliges strafmass entscheiden. Soll also strafrecht betreiben. Ob darüber hinaus ein besonderer schutz der gesellschaft in form von ambulanten oder stationären therapien oder die verwahrung nötig ist, wäre in einem nachgelagerten verwaltungsverfahren zu prüfen nach dem vorbild des führerausweiswesens im svg. Dort gälten verwaltungsrechtliche grundsätze (z. B. Mitwirkungspflicht). Dann würde die sache (massnahmen) wieder mit den prinzipien (verwaltungsrecht) übereinstimmen und wir hätten wieder eine einigermassen sinnvolle diskussionsgrundlage. Die aktuelle situation ist etwa so, dass (um ein medizinisches sinnbild zu nehmen) ein neurologisches leiden mit orthopädischen mitteln behandelt wird. Das kann nicht gut kommen.
Und wie halten wir es mit der Frage der „Steuerungsfähigkeit“, die praktisch ja immer auch Teil der psychiatrischen Begutachtung sind (vgl. StGB 20)? In diesem Zusammenhang können wir ja auch wieder einmal den Umstand beleuchten, dass für Täter, die gemäss Gutachten voll schuldfähig gewesen sein sollen(vgl. StGB 19), therapeutische Massnahmen angeordnet werden, die ja nur möglich sind, wenn die Tat mit der psychischen Störung im Zusammenhang steht (zB Art. 59).
Das Problem lässt sich eigentlich einfach darstellen:
1. Wenn der Staat an seine Bürgerin oder seinen Bürger (fortan: Bürger) herantritt mit der Vermutung (dem Verdacht), dieser habe etwas getan, weswegen er entweder (a) zu bestraften und/oder (b) – eingesperrt oder nicht – zu «behandeln» (Massnahme) ist,
2. dann hat dieser Bürger einen konventions- und verfassungsmässigen Anspruch darauf, dass er in dieser für ihn inferioren Situation von einer Person begleitet wird, welche sich in dieser besonderen Interaktions- und Kommunikationsituation (Strafrechtspraxis) auskennt und agieren kann: Das sog. Recht auf Verteidigung.
«Verteidigung» heist also hier zunächst nur, dass dem Bürger (als Folge seines emanzipierten Status) eine Person zur Seite gestellt wird, welche fachlich überhaupt erst dazu befähigt ist, den gesetzmässigen Gang des Verfahrens zu beobachten (überwachen) und allenfalls (sachlich) Widersprüche zu erheben.
Kurz, die Asymmetrie der strafprozessualen Gesprächssituation soll möglichst nivelliert werden.
Es leuchtet ein, dass die Verteidigung diese Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie anwesend ist (und nicht «teilnimmt», weil
sie kein Verfahrenssubjekt i.e.S. ist).
4. Der Bürger hat mit anderen Worten einen Anspruch darauf, dass die Person der Verteidigung in jeder Situation (Amtshandlung), in der er von oder im Auftrag von Strafbehörden als Informationsträger «verwendet» wird, anwesend ist (nochmals: nicht teilnimmt!),
4. Die Notwendigkeit der Anwesenheit der Verteidigung knüpft somit an die Eigenschaft des Bürger als «Informationsträger» und an eine asymmetrische Gesprächssituation, deren Ergebnisse im Rahmen einer strafrechtlichen Rechtsfolgebestimmung (Strafe/Massnahme) verwendet werden könnten.
5. Das forensisch-psychiatrische Explorationsgespräch ist eine solche Situation und unterscheidet sich darin nicht von anderen Einvernahmen.
6. Man benötigt also die (ohnehin polemischen und wenig zielführenden) Denkfiguren des «bösen Staatsanwalts» oder «einseitigen Gutachters» gar nicht, um den Anspruch zu begründen. Er besteht systemlogisch und a priori.
Das Bundesgericht lässt den Beschuldigten exklusiv im Explorationsgespräch alleine und dieses damit «unbeobachtet».
Dass man sich inhaltlich kaum mit den guten und klar herausgearbeiteten Argumenten in der Dissertation Urwyler auseinandergesetzt hat, dürfte daran liegen, dass man ihnen sonst hätte folgen müssen bzw. nicht vernünftig zu begründen gewesen wäre, warum man es nicht tut.
@tito: Ja, das Problem ist in juristischer Hinsicht wirklich ganz einfach:
(1.) das Schweizer Gesetz verleiht keinen direkten Anspruch auf Partizipation.
(2.) das Schweizer Bundesgericht lehnt es seit Jahrzehnten ab, gestützt auf allgemeine Prinzipien wie „fair trial“ einen solchen Anspruch auf Partizipation des Anwalts zu schaffen, und zwar bisher explizit im Strafprozessrecht, im Sozialversicherungsrecht und im Recht der fürsorgerischen Unterbringung. Die Rechtsprechung wurde publiziert und ist gefestigt.
Was EGMR/Art. 6 EMRK anbelangt: Es gilt die Maxime, dass die „fair trial“ nicht absolute Gleichheit bedeutet. Es müssen bei „fair trial“ alle Aspekte gesamthaft geprüft werden, inkl. der Korrektive einer vermeintlichen Ungleichheit. Und solche sind bei Gutachten zahlreich vorhanden:
(i.) rechtliches Gehör zu allen Aspekten des Gutachtens;
(ii.) das Recht, vor dem Gutachten Akten zu ergänzen und ergänzen zu lassen;
(iii.) Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht des Exploranden
(iv.) Unabhängigkeitskriterien und Ausstandsgründe gegen Gutachter;
(v.) Amtsgeheimnis, Strafbestimmung betreffend falsches Gutachten
(vi.) Zusatz- und Ergänzungsfragen;
(vii.) Zwingende Vollständigkeits- und Schlüssigkeitskritierien für Gutachten;
(viii.) Obergutachten;
(ix.) Befragung des Gutachters als Zeuge unter Wahrheitspflicht
(x.) das Recht, ein Gegengutachten einzureichen
(xi.) last but not least: Weder Gericht noch STA noch Privatklägeranwalt nehmen an der Exploration teil. Sie sind genauso „benachteiligt“ wie der Beschuldigtenanwalt.
Ich persönlich glaube nicht, dass der EGMR in der Angelegenheit auf eine Beschwerde überhaupt eintreten würde. Da sind schon wesentlich berechtigtere Anliegen vor EGMR gescheitert (bspw. SUVA-Kreisarztsystem oder MEDAS-Stellen bei IV-Begutachtung, alles freilich ohne Partizipation des Anwalts).