Wenn der gleiche Fall ungleich ist

“Wer als Mitglied der Beschwerdeinstanz tätig geworden ist, kann im gleichen Fall nicht als Mitglied des Berufungsgerichts wirken” (Art. 21 Abs. 2 StPO).

Was auf den ersten Blick als unmissverständlich klingt, kann aber durchaus Fragen aufwerfen, insbesondere diejenige nach dem Begriff des “gleichen Falls”. Kein “gleicher Fall” liegt gemäss Bundesgericht vor, wenn ein Gerichtsschreiber beim Entscheid über eine Beschwerde gegen eine Verfahrenstrennung und später auch als Gerichtsschreiber im Berufungsverfahren mitwirkt (BGer 1B_269/2021 vom 12.08.2021).

Im Beschwerdeverfahren betreffend die Zulässigkeit der Verfahrenstrennung, in welchem der Beschwerdegegner mitwirkte, waren nicht die gleichen Streitfragen zu klären, wie sie sich im vorliegenden, den Beschwerdeführer betreffenden Berufungsverfahren stellen. So war im ersteren Verfahren nicht über die Strafbarkeit des Beschwerdeführers zu befinden. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass sich der Beschwerdegegner in diesem Verfahren diesbezüglich bereits präjudizierend geäussert hätte (…). Auch wenn der Beschwerdeführer im Beschluss des Obergerichts vom 25. August 2020 mehrfach im Zusammenhang mit der angeblichen versuchten vorsätzlichen Tötung erwähnt worden ist, lässt sich daraus nicht schliessen, dass sich der Beschwerdegegner hinsichtlich der strafrechtlichen Beurteilung des Beschwerdeführers bereits im Beschwerdeverfahren festgelegt hätte und damit der Ausgang des Berufungsverfahrens nicht mehr als offen erscheint.  Vor diesem Hintergrund begründet die Beteiligung des Beschwerdegegners am Beschwerdeverfahren betreffend die Verfahrenstrennung von vornherein keinen Ausstandsgrund im Sinne von Art. 56 lit. b bzw. Art. 21 Abs. 2 StPO oder Art. 56 lit. f StPO (E. 3.2, Hervorhebungen durch mich).

Die Theorie stellt das Bundesgericht wie folgt dar:

Eine gleiche Sache ist anzunehmen bei Identität der betroffenen Parteien, des Verfahrens und der zur Beantwortung stehenden Streitfragen (BGE 143 IV 69 E. 3.1 mit Hinweisen). Dies gilt nicht nur im Zusammenhang mit Art. 56 lit. b StPO, sondern auch im Kontext von Art. 21 Abs. 2 StPO (vgl. Urteil 1B_348/2015 vom 17. Februar 2016 E. 3) : Zwar erweitert Art. 21 Abs. 2 StPO gemäss einer Lehrmeinung die allgemeinen Ausstandsvorschriften von Art. 56 StPO (in diesem Sinne DANIEL KIPFER, in: Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 21 StPO; a.M. ANDREAS J. KELLER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 4 zu Art. 21 StPO). Auch läge eine solche Erweiterung in der Tat vor, wenn die Rechtsprechung, wonach die Mitwirkung einer als Mitglied des Berufungsgerichts eingesetzten Gerichtsperson im Revisionsverfahren in der gleichen Sache mit Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist (vgl. BGE 114 Ia 50 E. 3d; Urteile 6B_1114/2017 vom 7. Dezember 2017 E. 2.2; 5A_570/2007 vom 26. Februar 2008 E. 3.1), analog auf die Mitwirkung eines Mitgliedes der Beschwerdeinstanz als Mitglied des im gleichen Fall angerufenen Berufungsgerichts anzuwenden wäre (vgl. dazu Botschaft StPO, BBl 2006 1140; HENZELIN/MAEDER, a.a.O., N. 10 zu Art. 21 StPO). Es bestehen aber keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass bei Art. 21 Abs. 2 StPO ein anderer Begriff der gleichen Strafsache bzw. des gleichen Falles zu Grunde zu legen wäre als bei Art. 56 lit. b StPO (E. 2.3, Hervorhebungen durch mich). 

Quizfrage: Sind überhaupt Fälle denkbar, in denen es bei der Beschwerde und der Berufung um die gleichen Rechtsfragen gehen kann und damit Art. 21 Abs. 2 StPO anwendbar ist?