Wenn gelöschte Vorstrafen doch zu berücksichtigen sind

Das Bundesgericht heisst erneut eine Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft ZH gegen eine Haftentlassungsverfügung gut (BGer 1B_589/2021 vom 19.11.2021, Fünferbesetzung). Der verfahrensleitende Oberrichter hat die Legalprognose unrichtig abgestützt.

Der Fall, der schon mehrfach vor Bundesgericht war, betrifft einen Mann, der seine Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren bereits vollständig verbüsst hat. Offen ist nur noch die Verwahrung, deren Anordnung das Bundesgericht in einem hängigen Verfahren noch überprüfen muss.

Im hier besprochenen Entscheid fasst das Bundesgericht seine Praxis zum Verhältnis der medizinischen Realprognose und der juristischen Legalprognose wie folgt zusammen:

Der erwähnte Leitentscheid (BGE 135 IV 87) bezog sich auf die Unzulässigkeit der Berücksichtigung entfernter Vorstrafen bei der Strafzumessung und beim Entscheid über den Strafaufschub. Ihm folgend hielt das Bundesgericht in BGE 135 I 71 fest, dass Art. 369 StGB auch vom Haftrichter zu beachten sei und deshalb aus dem Strafregister entfernte Vorstrafen bei der Prüfung des strafprozessualen Haftgrunds der Wiederholungsgefahr grundsätzlich nicht zu berücksichtigen seien (a.a.O., E. 2.11). In den Urteilen 6B_796/2009 vom 25. Januar 2010 E. 2.4 und 6B_274/2010 vom 3. Mai 2010 E. 1.3 ff. bestätigte es diese Rechtsprechung in Bezug auf die bedingte Entlassung aus der Verwahrung und die Überprüfung einer altrechtlichen Verwahrung.  In seiner weiteren, auf die beiden genannten Leitentscheide folgenden Rechtsprechung hielt das Bundesgericht an der Unterscheidung zwischen medizinischer Realprognose und juristischer Legalprognose fest, ohne allerdings zu fordern, dass das Gericht gutachterliche Schlüsse, die auf entfernten Vorstrafen beruhen, ausblendet bzw. unberücksichtigt lässt (Urteile 1B_88/2015 vom 7. April 2015 E. 2.2; 6B_229/2017 vom 20. April 2017 E. 3.4; 6B_240/2017 vom 6. Juni 2017 E. 1.5 f.). Weiter geht daraus hervor, dass der Miteinbezug von entfernten Vorstrafen bei der Täterpersönlichkeit kein Bundesrecht verletzt, sofern diese nicht alleiniges Kriterium für die genannten Persönlichkeitszüge sind (Urteil 6B_509/2019 vom 29. August 2019 E. 2.2 mit Hinweis auf Urteil 6B_877/2014 vom 5. November 2015 E. 8.4 hinsichtlich des Bewusstseins des Täters betreffend sein Alkohol- und Gewaltproblem und Urteil 6B_875/2009 vom 22. März 2010 E. 2.4 hinsichtlich der Neigung zu sexuellen Handlungen mit Kindern). Als unzulässig erachtete das Bundesgericht dagegen die Berücksichtigung eines gleichartigen Tatvorgehens (Einfuhr von Drogen mittels eines Fahrzeugs, das ein Versteck aufweist) und die Prozessstrategie (gegenseitige Belastung durch einen Mitbeschuldigten) zu Lasten des Beschuldigten, weil sich diese Elemente ausschliesslich aus zwei nicht mehr im Strafregister eingetragenen Urteilen ergaben (Urteil 6B_509/2019 vom 29. August 2019 E. 2.3). In einem kürzlich ergangenen und zur Publikation vorgesehenen Urteil erwog das Bundesgericht schliesslich, dass das Gericht sowohl bei der nachträglichen Verwahrung gestützt auf Art. 62c Abs. 4 StGB als auch bei der originären Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB für die entscheidende Frage nach der Legalprognose eine Gesamtbetrachtung vornehmen müsse. Die Kriminalitätsentwicklung, d.h. Beginn, Art und Häufigkeit des früheren strafbaren Verhaltens, sei ein entscheidendes Prognosekriterium. Lehre und Rechtsprechung würden daher anerkennen, dass bei der Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB für die Legalprognose nicht nur den neu zu beurteilenden Anlasstaten, sondern – unabhängig von der zwischenzeitlichen Löschung im Strafregister – auch allfälligen Vorstrafen Rechnung zu tragen sei (Urteil 6B_544/2021 vom 23. August 2021 E. 3.6.1, mit Hinweis auf BGE 135 IV 87 E. 2.5 und HEER/HABERMEYER, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019, N. 68 zu Art. 64 StGB).[E. 5.3].

Aber Vorsicht: was man eben gelesen hat, ist nur vordergründig so gemeint wie man es versteht:

Aus dieser Übersicht folgt, dass das Bundesgericht trotz vordergründig uneingeschränktem Festhalten an der Unterscheidung zwischen Real- und Legalprognose die Berücksichtigung von entfernten Vorstrafen als Prognosekriterium auch durch das Gericht zulässt. Bei der Frage, ob im Sinne von Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB auf Grund der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, der Tatumstände und seiner gesamten Lebensumstände ernsthaft zu erwarten ist, dass er weitere Taten dieser Art begeht, muss somit der Kriminalitätsentwicklung in einem umfassenden Sinn Rechnung getragen werden. Dies bedeutet, dass das Obergericht zu Unrecht davon ausging, dass es die im Jahr 1999 begangenen Delikte (vorsätzliche Tötung, Raub und Diebstahl) auszublenden hatte. Die Rückweisungsentscheide des Bundesgerichts vom 16. Oktober 2017 und 25. November 2020 halten dies zwar so nicht fest. Sie enthalten jedoch auch kein Gebot, psychiatrische Einschätzungen des Gutachters aus der gerichtlichen Würdigung auszuschliessen, weil sie mit aus dem Strafregister entfernten Straftaten zusammenhängen. Die Würdigung des Gutachtens aus dem Jahr 2021 wird durch die Vorgaben in den Rückweisungsentscheiden mit anderen Worten nicht bereits vorweggenommen (s. E. 5.1 hiervor). Eine abschliessende Prüfung dieser Frage ist der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts im Rahmen des Beschwerdeverfahrens in der Sache vorbehalten. Für die Zwecke des Haftprüfungsverfahrens ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Bindungswirkung bundesgerichtlicher Rückweisungsentscheide einer Auslegung von Art. 64 Abs. 1 und 369 Abs. 7 StGB im Sinne des erwähnten, zur Publikation bestimmten Urteils 6B_544/2021 vom 23. August 2021 nicht entgegensteht (E. 5.4).  

Ergebnis:

Es bestehen somit konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts im Rahmen des hängigen Beschwerdeverfahrens zu einem anderen Schluss hinsichtlich der Legalprognose gelangen könnte. Da Gutachter D. bei einer ganzheitlichen Betrachtung zum Ergebnis kam, Eigentumsdelikte unter Gewaltanwendung sowie Straftaten gegen die körperliche Integrität und gegen die sexuelle Selbstbestimmung seien mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, erscheint dieser Punkt zudem als zentral. Der angefochtene Haftentscheid ist deshalb aufzuheben und zur Prüfung der weiteren Haftvoraussetzungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Entgegen der Kritik des Beschwerdegegners sind diese jedenfalls nicht offensichtlich zu verneinen, weshalb es nicht Aufgabe des Bundesgerichts ist, darüber in erster Instanz zu befinden.  

Wie unabhängig wird die Strafrechtliche Abteilung unter diesen Umständen über die Verwahrung entscheiden können? Und wie wird sich wohl der verfahrensleitende Oberrichter fühlen, wenn er diesen Entscheid des Bundesgerichts liest?