Widerruf des Rückzugs der Berufungserklärung

Leidet der Rückzug eines Rechtsmittels an einem Willensmangel, kann er widerrufen werden. Dies hat das Bundesgericht in einem neuen, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil entschieden (BGE 6B_676/2014 vom 30.07.2015). Der Widerruf ist – vor oder nach Erlass des Abschreibungsbeschlusses – an diejenige Instanz zu richten, gegenüber welcher der Rückzug erklärt worden war.

Nicht erforderlich ist, den Abschreibungsbeschluss anzufechten. Das Bundesgericht tritt gar nicht ein:

Die in Art. 386 Abs. 3 StPO erwähnten Willensmängel werden typischerweise auch nach Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannt oder ihre Wirkung dauert darüber hinaus an. Ihre Geltendmachung nach diesem Zeitpunkt muss daher, obwohl die Revision nach Art. 410 Abs. 1 StPO unzulässig ist, möglich bleiben. Art. 386 Abs. 3 StPO statuiert lediglich, dass der Rückzug eines Rechtsmittels endgültig ist, es sei denn, bestimmte Willensmängel lägen vor. Umgekehrt bedeutet dies, dass ein im Sinne von Art. 386 Abs. 3 StPO mit Willensmängeln behafteter Rechtsmittelrückzug nicht endgültig ist und widerrufen werden kann. Im Sinne dieser Bestimmung hat die Partei, deren Rückzugserklärung sich als unwirksam erweist, einen Anspruch darauf, dass ihr Rechtsmittel von der zuständigen Berufungs- oder Beschwerdeinstanz in der Sache behandelt wird. Ein solcher Widerruf ist daher – unabhängig von der Beschwerdefrist ans Bundesgericht – an diejenige Instanz zu richten, gegenüber welcher der Rückzug des Rechtsmittels erklärt wurde. Ohne Belang ist, ob dies vor oder nach dem Erlass eines Abschreibungsbeschlusses erfolgt, zumal Letzterem bloss deklaratorische Wirkung zukommt. Widerruft eine Partei ihren Rückzug, ist das Rechtsmittelverfahren neu aufzunehmen. Erachtet die Beschwerde- oder Berufungsinstanz, der Rückzug sei wirksam, ist auf das Rechtsmittel – wie bei einer verspäteten Eingabe – nicht einzutreten. Soweit vor Bundesgericht ein Abschreibungsbeschluss angefochten und – wie vorliegend – geltend gemacht wird, der Rückzug des Rechtsmittels sei nach Art. 386 Abs. 3 StPO unwirksam, ist auf die Beschwerde mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht einzutreten (Art. 80 Abs. 1 BGG). Hätte das Bundesgericht über die behaupteten Willensmängel zu befinden, müsste es sich wie ein Sachgericht zur Beweiswürdigung äussern und sein Ermessen in Beweisfragen über dasjenige des Sachgerichts setzen. Dies widerspricht dem Grundsatz, wonach das Bundesgericht in Tatfragen nur prüft, ob die Vorinstanz das Willkürverbot verletzt hat (Urteil 6B_389/2012 vom 6. November 2012 E. 4.4) [E. 2.2.3].

Der Sachverhalt zu diesem Entscheid ist übrigens lesenswert. Man darf gespannt sein, wie der Fall ausgeht. Das Bundesgericht wird sich bestimmt auch in Zukunft damit befassen müssen.