Widersprüchliches Verhalten begründet Rückzug der Einsprache

Aus BGer 6B_600/2022 vom 17.08.2022 zu einem Anwendungsfall der Rückzugsfiktion nach Art. 355 Abs. 2 StPO:

Zwar geht aus dem gesamten prozessualen Verhalten der Beschwerdeführerin hervor, dass sie sich stark gegen das gegen sie eröffnete Strafverfahren wehrte. Jedoch wehrte sie sich ebenso heftig gegen die Bemühungen der Staatsanwaltschaft, in der vorliegenden Angelegenheit eine Einvernahme mit ihr durchzuführen. Damit verhielt sich die Beschwerdeführerin widersprüchlich (E. 1.4.3, Hervorhebungen durch mich).

Das Problem lag m.E. darin, dass der Beschwerdeführerin der Entscheid über ihr kurzfristig gestelltes Verschiebungsgesuch nicht vor dem Nichteintretensentscheid mitgeteilt werden konnte:

Gleichzeitig stand die Beschwerdeführerin für die Mitteilung des Entscheids der Staatsanwaltschaft über das Verschiebungsgesuch nicht zur Verfügung. Damit zeigte sie, dass sie an diesem Entscheid nicht interessiert war, sondern ausschliesslich beabsichtigte, ihre Erscheinungspflicht zu umgehen und – erneut – die Durchführung der Einvernahme zu verhindern. Aufgrund einer Gesamtwürdigung aller massgebenden Umstände ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz davon ausgeht, die Beschwerdeführerin habe in Kenntnis der Säumnisfolgen mit ihrem Verhalten in Kauf genommen, dass ihr ein konkludentes Desinteresse am Verfahrensgang und an dem ihr zustehenden Rechtsschutz unterstellt wird. Ferner erweist sich ihr prozessuales Verhalten als rechtsmissbräuchlich, da es darauf zielt, die Instrumente des Rechtsschutzes zu verhindern, den sie mit ihrer Einsprache selbst verlangt hat. Dies ergibt sich auch aus ihrer Beschwerde an die Vorinstanz, in welcher die Beschwerdeführerin ihren Unwillen, an der angesetzten Einvernahme zu erscheinen, deutlich macht (kantonale Akten, act. 2, Rz. 24) [E. 1.4.3, Hervorhebungen durch mich].

Das korrekte Vorgehen der Staatsanwaltschaft wäre m.E. gewesen, der Beschwerdeführerin den Entscheid über die Abweisung des Verschiebungsgesuchs förmlich zu eröffnen und sie zum vorgesehenen Nichteintretensentscheid anzuhören. Aber sowas hätte die Behördengeduld überstrapaziert. Die Rückzugsfiktion sollte ja das Verfahren vereinfachen, nicht erschweren. Rechtsmissbrauch!

Wenn ich es richtig sehe, hat die Beschwerdeführerin zumindest eines ihrer möglichen Ziele dennoch erreicht. Die Verurteilung erschien nie in ihrem privaten Strafregisterauszug und wird auch nie erscheinen.