Wie alt ist eine Comic-Figur?
Im schweizerischen Recht kann offenbar das Alter einer Comic-Figur für die Strafbarkeit nach Art. 197 StGB entscheidend sein.
Das schliesse ich aus einem neuen Bundesgerichtsentscheid. Dieser enthält in der Sachverhaltsdarstellung einen Freispruch vom Vorwurf der Pornografie betreffend Abbildungen „nicht tatsächlich sexueller Handlungen mit Minderjährigen über 16 Jahren“ (BGer 6B_244/2017 vom 12.02.2018):
Auf Berufung von A.C. und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft hin sprach ihn das Kantonsgericht St. Gallen am 21. November 2016 vom Vorwurf mehrfacher Pornografie betreffend 35 Abbildungen nicht tatsächlich sexueller Handlungen mit Minderjährigen über 16 Jahren frei.
Der Freispruch ist offenbar rechtskräftig geworden, so dass sich das Bundesgericht nicht damit befassen musste. Kann es wirklich sein, dass der Richter das Alter der Comic-Figur beurteilen muss?
Vermutlich kommt es darauf an, wie realistisch die Darstellung der (Comic)-Figur ist. Heute ist es ja technisch möglich, Filme am Computer zu programmieren, denen man das (fast) nicht ansieht (vgl. Kingsglaive: Final Fantasy XV). Art. 197 StGB würde ja ins Leere laufen, wenn „programmierte“ Minderjährige davon nicht erfasst werden (sprich wenn Kinderpornografie zukünftig nur noch am Computer entsteht statt mit echten Menschen). Allerdings stellt sich natürlich die Frage, ob überhaupt ein Strafbedürfnis besteht, wenn bei der Produktion von Kinderpornographie gar keine Minderjährigen geschädigt werden bzw. überhaupt irgendwie betroffen sind. Das gilt umso mehr, da das bei uns geltende Schutzalter von 16 Jahren ja ziemlich willkürlich festgelegt ist (gemäss Wikipedia variiert es je nach Land zwischen 12 und 19 Jahren).
Das finde ich jetzt nicht überraschend. Es entspricht wohl der herrschenden Lehre und Rechtsprechung, dass der Tatbestand der (Kinder)pornografie auch durch comichafte Darstellung erfüllt werden kann. Grund dafür ist – aus der Erinnerung – dass mit dem Tatbestand nicht nur die Rechtsgüter der Opfer der erfolgten pornografischen Darstellung geschützt werden sollen, sondern auch, dass sich entsprechende Präferenzen bei Tätern, welche die Darstellungen konsumieren, verfestigen. Wie „science-based“ diese Überlegung ist, ist mir nicht bekannt, aber diese Frage könnte man sich ja noch bei vielen Rechtsgütern fragen, die der Gesetzgeber mit strafbewehrten Tatbeständen schützt. Dass der Richter dann u.U. das Alter einer Comicfigur beurteilen muss, ist dann wohl unvermeidlich.
Das stimmt schon. Eigentlich nicht überraschend. Und doch staune ich immer wieder über solchen Unsinn.
Geht es bei Darstellungen um Kinder 16 geht, entsteht die eigenartige Situation, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen erlaubt sind, Abbildungen davon aber nicht (wenn der Täter selbst schon volljährig ist).
Inwiefern wir unseren Kindern damit einen Gefallen machen, dass wir Menschen mit pädophilen Neigungen sämtlichen Alternativventile verbieten, sollte einem bei dieser Grundsatzfrage etwas zu Denken geben.
Nicht zuletzt empfinde ich die richterliche Handhabung in dieser Sache sehr unglücklich, da man bereits heute in Schweizer Comicshops entsprechende Werke kaufen kann, welche fiktiv bereits sehr Nahe an den Tatbestand kommen, welchen man hier nun richterlich unter Strafe stellt.
@kj – Das Hauptproblem liegt darin, dass die h.L. (vorallem KOLLER / MUGLI) schlicht keine Ahnung davon hat, worüber sie schreibt. So hängt sie etwa nach wie vor der Fehlmeinung an, das Wort „Hentai“ bezeichne den „Sammelbegriff für gezeichnete harte Pornographie“ [KOLLER, Cybersex S. 80, beleglos], obwohl schon eine (strafrechtlich nicht mehr empfehlenswerte) Google-Recherche belegt, dass das völliger Unsinn ist, sowohl was die Begriffsbezeichnung, als auch die Begriffsbedeutung angeht.
(Zur echten Bedeutung: https://www.wadoku.de/entry/view/9770143)
Entsprechend schlecht wird dann – konsequent – gerechtfertigt, weshalb überhaupt eine Strafbarkeit für nach Wortlaut der Materialien „Gemälde oder Comics“ sowie Computerspiele bestehen soll.
Daher, ja – solange Art. 197 Abs. 4 StGB in gegenwärtiger Form existiert, werden sich die Gerichte noch häufiger über das Alter von Comicfiguren streiten müssen. Bei der Implementierung der Lanzarote-Konvention hat man im Parlament einfach vergessen – obwohl sowohl ich als auch Prof. Niggli eindringlich darauf hingewiesen haben – dass im Gegensatz zu tatsächlicher Kinderpornographie (recte: Missbrauchsabbildungen) – „nicht tatsächliche“ Abbildungen schon fast ubiquitär vorhanden sind und sich das gerade im Hinblick auf die Konsumstrafbarkeit nach Art. 197 Abs. 5 StGB auf eine riesige Quasi-Zensur rsp. faktischen Netzsperren grossen Teils des öffentlich zugänglichen Internets auswirken wird.
(Ich verweise dazu einfach mal auf die Pornhub-Statistiken, die klar belegen, dass auch in der Schweiz ein grosses Interesse an entsprechender, fiktionaler Pornographie besteht. Die haben zwar auch nicht verstanden, was „Hentai“ bedeutet, aber egal. Keine Sorge, der Link ist unbedenklich, das ist vom restlichen „Angebot“ getrennt: https://www.pornhub.com/insights/2017-year-in-review)
Das ganze ist vielmehr sogar so kompliziert, dass mir vor kurzem erst eine Masterarbeit genehmigt wurde, die sich nur mit dem Thema befassen wird. Ich danke daher für den Hinweis auf den Bundesgerichtsentscheid, ich werde die Vorentscheide mal anfordern gehen, damit klarer wird, was für Bilder diesmal dem Bannhammer entkommen sind. Wollen Sie eine Kopie der Urteile haben?
Als kleines Gegenbeispiel für strafbare Pornographie bei Charakteren, deren Alter AFAIK vom Autor als >18 bezeichnet wird – was allerdings, wie KOLLER [Cybersex – S. 220, Fn. 1088] schreibt, ja leider völlig irrelevant ist: KG BL 460 15 161 vom 1. März 2016, indem in Dispositionsziffer 8 der Anime (japanischer Zeichentrickfilm) „Urotsukidoji“ nach Art. 197 Abs. 6 StGB eingezogen wird, also Strafbarkeit nach Art. 197 Abs. 4 StGB des Werks festgestellt wurde. [https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/gerichte/rechtsprechung/kantonsgericht/rechtsgebiet/strafrecht/urteile-nach-migration/2016-03-01-sr-1.pdf]
Man kann sich das Warum zwar durchaus erklären, wenn man mal den englischen Wikipedia-Artikel dazu nachschlägt (Zur Vorwarnung, es ist keine besonders schöne Form der Pornographie, hat aber immerhin ein ganzes Genre der japanischen Erotik mitgegründet, ist also m.E. eindeutig – wenn auch ziemlich widerliche – Kultur im Sinne von Art. 197 Abs. 9 StGB), aber erläutert, weshalb das Gericht von einer Strafbarkeit in Form der „nicht tatsächlichen sexuellen Handlungen mit Minderjährigen“ ausgeht, wird es im Entscheid leider auch nicht. Auch da werde ich den Vorentscheid anfordern, weil ich ihn für die Arbeit benötigen werde.
@Malo – Mit Verlaub, ich sehe auch bei FF-XV: Kingsglaive auf den ersten Blick, dass es sich nicht um reale Personen handeln kann. (Ist eindeutig CGI – gut gemacht, zweifellos, aber sofort erkennbar) Ich weiss bis heute nicht, wie man sich ernsthaft auf den Standpunkt stellen kann, es gäbe so etwas wie „virtually indistinguishable“ Darstellungen, welche die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischen könnten und halte das für reine Schutzbehauptungen der Strafverfolger.
[Danke trotzdem für den Vergleich. Es war nämlich zufälligerweise der Vorgänger-Film FF-VII: Advent Children, anhand derer ich das selbe Problem 2012 Prof. Niggli zu erklären versuchte…]
Als kleine Zusatzinformation: Auch wenn ich über den Film nichts sagen kann, ist das zugehörige Spiel FF-XV, wenn man die h.L. zu Art. 197 Abs. 4 StGB ganz konsequent auslegen will, ebenfalls bereits verbotene Pornographie… [Dafür sorgen zahlreiche Posing-Szenen des Charakters Cindy]
(Es gab denn auch bereits Beschwerden aus dem Game-Journalismus, das Spiel sei sexistisch:
https://www.themarysue.com/final-ly-fed-up-why-are-final-fantasy-xv-fans-so-anti-woman/ ,
https://www.theguardian.com/technology/2016/dec/14/final-fantasy-xv-review )
@Theo – Ja natürlich, technisch gesehen stehen alle Betreiber von Comicläden in der Schweiz längst mit einem Bein im Gefängnis, denn da gibt es nicht nur „Werke, welche fiktiv bereits sehr Nahe an den Tatbestand kommen“ sondern – aus eigener Erfahrung vor 2014 – auch zahlreiche Werke, die den Tatbestand ganz eindeutig erfüllen. (Sexshops übrigens auch, als Gedankenanstoss)
Lanzarote ist ein Bücherverbrennungsgesetz. Meine Comics sind denn auch alle – rein vorsorglich – im Feuer gelandet. Macht man ernst damit, kann man selbst Uni-Bibliotheken auseinander nehmen.
Momentan besteht einfach noch die glückliche Situation, dass die Staatsanwaltschaften ihre Möglichkeiten entweder schlicht nicht kennen (weil kaum jemand die Norm versteht – eher wahrscheinlich), oder dass sie sich bewusst weigern, die Norm konsequent umzusetzen, weil sie zu absurd hohen Fallzahlen führte, welche die gesamte Strafverfolgung lahmlegten (grundsätzlich möglich, aber weil Verstoss gegen Art. 7 Abs. 1 StPO eher unwahrscheinlich), sodass die Anwendung momentan zu etwa 98% ignoriert wird. Ich verweise für weiteren Horror mal auf mein 2013 geschriebenes Argumentum für ein – klar gescheitertes – Referendum gegen diesen Unsinn: http://bvggchem.twoday.net/stories/argumentum-gegen-die-umsetzung-der-lanzarote-konvention/
@Eru Jiyuuka dein Post ist schon einige Monate alt, wenn du die Urteile noch hast, wäre ich dir sehr dankbar dafür. Ich schreibe meine Masterarbeit ebenfalls zu diesem Thema 🙂
Herzlichen Dank!