Willkür ohne Folgen
In einem Entscheid, den ich auch nach mehrfacher Lektüre nicht verstehe, wirft das Bundesgericht dem Obergericht AG vor, in Willkür verfallen zu sein (BGer 7B_692/2023 vom 29.11.2024):
Zusammengefasst ist festzuhalten, dass die Vorinstanz den Sachverhalt willkürlich festgestellt hat. Der Beschwerdeführer selbst und nicht Rechtsanwalt B. führte mit der Eingabe vom 14. Juni 2023 Beschwerde gegen die Verfügung der Präsidentin des Bezirksgerichts Baden vom 2. Juni 2023. Die Beschwerde vom 14. Juni 2024 genügt nach zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz den Begründungsanforderungen, weswegen sie auf die (einzige) ihr vorgelegte Beschwerde hätte eintreten müssen: Die des Beschwerdeführers, amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt B. und erbeten verteidigt durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic Marini (E. 2.7).
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der beschuldigten Person, vor Bundesgericht vertreten durch ihren erbetenen Verteidiger, ab und gewährt ihr nicht einmal die unentgeltliche Rechtspflege. Wer erklärt es in einfachen Worten? Ich kann es nicht.
Der BGE ist zunächst schlampig redigiert. Die kantonale Beschwerde datiert (in denselben Absätzen) einmal von 2023 und dann 2024 (E. 2.5 und 2.7, vgl. Sachverhalt B.).
Auf eine einzige kantonale Beschwerde, von zwei Rechtsanwälten unterzeichnet (amtlich: B, und erbeten: Kenad Melunovic Marin [im Folgenden KMM]), wird bezüglich B gutgeheissen, aber bezüglich KMM gar nicht eingetreten. Schon das scheint widersprüchlich und wirft Fragen nach der Logik auf.
Würde die Beschwerde vom 14. Juni 2023 vorliegen, liesse sich dies klären.
Den BGE interpretiere ich so:
Das Nichteintreten bezüglich KMM ist gemäss BGE zwar willkürlich. Ob eine Gehörsverletzung vorliege, könne aber offen bleiben (sei also nicht entscheidrelevant), denn auf die Beschwerde von KMM sei nur bezüglich (verweigerte) Parteientschädigung einzutreten (E. 2.8).
Materiell stehe KMM (trotz Gutheissung der kantonalen Beschwerde, worauf sich KMM beruft, E. 3.1) keine Parteientschädigung zu, da er nicht begründet habe, weshalb eine doppelte Vertretung im kantonalen Verfahren geboten gewesen wäre (E. 3.4).
Und da deswegen die Beschwerde ans Bundesgericht von vornherein aussichtslos gewesen sei, wird auch die beantragte unentgeltliche Rechtspflege verweigert.
Der Dumme ist (wie so oft) der Beschwerdeführer: ER muss die Verfahrenskosten beim Bundesgericht (1’200) bezahlen. Für einen Fachfehler seines Rechtsanwalts Kenad Melunovic Marin – falls der BGE rechtlich haltbar ist.
Das Ganze wirkt kafkaesk.
Werter Herny
da Sie etwas gar heftig «mit Steinen auf mich werfen», erlauben Sie ich mir bitte einige klärende Bemerkungen:
zur (relevanten) Verfahrensgeschichte:
1.
Der Klient (K) war bis zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung amtlich verteidigt durch Kollege B.
2.
2.1.
Nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung, gelangte Kollege B. an meine Person und fragte an, ob ich das amtliche Mandat per sofort und für das Berufungsverfahren übernehmen wolle.
2.2.
Ich habe gerne zugesagt.
2.3.
Kollege B. ersuchte (in eigenem Namen) um Entlassung aus dem amtlichen Mandat und teilte der Verfahrensleitung mit, dass K meine Person als neuen amtlichen Verteidiger wünscht.
Als Grund für seine Entlassung gab er an, dass er demnächst in Pension gehen und die Anwaltstätigkeit aufgeben wolle.
2.4.
Die Verfahrensleitung lehnte das Gesuch von B. um Entlassung aus dem amtlichen Mandat – wesentlich – mit der Begründung ab, er hätte sich das mit der Pensionierung vorher überlegen können. Er habe das Mandat nun (gefälligst) bis zum Ende zu betreuen.
(Wie Sie, Werter Henry, sich denken können, waren alle mit so einem Entscheid überrascht.
2.5.
Ich habe daraufhin im Auftrag und Namen von K eine Beschwerde gegen diese Verfügung verfasst.
Kollege B. hat mitunterzeichnet.
3.
Das Obergericht machte dann – zur erneuten Überraschung aller – das Folgende:
3.1.
Es nahm K als Beschwerdeführer 1 und Kollege B als Beschwerdeführer 2 ins Rubrum (obwohl Kollege B keine Beschwerde in eigenem Namen eingereicht hatte).
3.2.
Das Obergericht hiess die Beschwerde von B. (der keine Beschwerde in eigenem Namen führte) gut und entschädigte diesen persönlich (nicht in seiner Eigenschaft als amtlicher Verteidiger von K.),
trat auf die (einzige) Beschwerde von K, erbeten verteidigt durch mich (mitunterzeichnet von B.) nicht ein und verweigerte ihm die Entschädigung.
3.3.
Zur Begründung erwog das Obergericht im Kern, dass die beschuldigte Person sich (im eigenen Namen) nicht auf Entlassungs- oder Wechselgründe berufen könne, die (ausschliesslich) in der Person der amtlichen Verteidigung liegen (und nicht das Verhältnis betreffen; hier konkret: die beabsichtigte bevorstehende Pensionierung.]?
3.4.
(Da es sich hierbei um eine praktisch bedeutsame Rechtsfrage handelt, konnte deren Beantwortung durch das Obergericht – trotz Obsiegens im Ergebnis und Einzelfall – mit Blick auf alle zukünftigen Fälle ähnlichen Konstellationen nicht so stehengelassen werden.
Die beschuldigte Person steht im Zentrum des Strafverfahrens wie auch der Verteidigerrechte.
Die Rechtsauffassung, wonach die beschuldigte Person sich gegen Entscheide der Art, wie sie hier von der erstinstanzlichen Verfahrensleitung entschieden wurden (Sinngemäss: «Du, Verteidiger, darfst nicht in Pension gehen»! Du, Beschuldigter, hast dies gefälligst hinzunehmen.») nicht selbst mit Beschwerde wehren darf.
4.
Diese Rechtsfrage sollte höchstrichterlich geklärt werden; was sie auch wurde (entgegen der Rechtsauffassung des Obergerichts.)
Fazit:
(1)
Es handelte sich um eine strategische Beschwerde, die der Klärung einer Rechtsfrage dienen sollte – mit Blick auf viele zukünftige gleichartige Fälle;
(2)
Diese Frage wurde vom Bundesgericht – entgegen der Rechtsauffassung des Obergerichts – zugunsten des Parteiststatus der beschuldigten Person und somit positiv beantwortet (E. 2.3 ff.);
(3)
Es ging – also – gerade nicht um die (notabene in ihrer Höhe vernachlässigbare) Entschädigung;
(4)
Die Anfechtung der Entschädigung war vielmehr der einzige – formell verbleibende – Anknüpfungspunkt, der es erlaubt hat, die problematische Frage dem Bundesgericht erst vorzulegen (dies nachdem die Entlassung bzw. der Wechsel ja gutgeheissen worden waren; die Gutheissung aber in ihrer Begründung mit einem – pro futuro – potentiell tiefgreifenden Fehler behaftet war).
(5)
Und zu guter Letzt: Der Klient wird sicher nicht auf den Kosten sitzen bleiben.
Ich wünsche Ihnen frohe Festtage und eine guten Rutsch ins 2025.
@Keni: Herzlichen Dank für die Klarstellung. War auch für mich zu kompliziert.
@Kenad Melunovic: Auch ich danke Ihnen für die Präzisierungen.
Aus dem BGE sind – zumindest für mich – weder Ihre taktischen Überlegungen zur Klärung einer Rechtsfrage noch der von Ihnen gegenteilig geschilderte Sachverhalt ersichtlich. Meine Folgerung eines anwaltlichen Fachfehlers habe ich zudem unter Vorbehalt geäussert („falls der BGE rechtlich haltbar ist“).
Mein 2. Kommentar war ironisch, polemisch gemeint und gegen das BGer gerichtet, das sich – nach meiner Erfahrung mehrmals – aus sachfremden Gründen zu rechtswidrigen Entscheidungen hinreissen lässt. Das war auch hier mein Eindruck.
Mit beiden Kommentaren war es nicht meine Absicht, „gar heftig mit Steinen“ auf Sie „zu werfen“. Diesbezüglich haben Sie mich missverstanden. Das tut mir leid.
Ebenfalls frohe Festtage!
Zuweilen teilt das Bundesgericht seine Botschaft zwischen den Zeilen mit. Die könnte hier so lauten:
„Was fällt dir ein, Kenad Melunovic Marini, pedantisch auf dem Fehler unserer Aargauer Oberrichter-Kollegen rumzureiten?
Und dann willst du noch Kohle, obwohl du diese verdammte Beschwerde nur mitunterschrieben, aber gar nicht daran mitgearbeitet hast?
Schon dein Name klingt unsympathisch.
Na warte. Sollen wir die Gerichtskosten DIR auferlegen?
Nein, doch lieber dem Beschwerdeführer – dem verurteilten Mörder. Der wird dann so richtig sauer auf seinen Anwalt sein …“