Willkürlicher Freispruch in St. Gallen?
Das Bundesgericht wirft dem Kantonsgericht SG vor, in Willkür verfallen zu sein (BGer 6B_305/2020 vom 01.10.2020). Es ging um die Beurteilung eines Verkehrsunfalls, zu dem ein Gutachten erstellt wurde. Das Gutachten sollte die Frage beantworten, ob die beschuldigte Autofahrerin die Kollision mit einer Fussgängerin überhaupt vermeiden konnte. Zu diesem Zweck errechnete das Gutachten Varianten:
Der Gutachter bemisst den Anhalteweg ab dem Kollisionspunkt bis zur Endlage auf 14.6 – 17 m. B. habe die Fussgänger erstmals 5.2 s (minimale Variante) bis 2.8 s (maximale Variante) vor der Kollision sehen können. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Fahrzeug 59.2 m (minimale Variante) respektive 38.1 m (maximale Variante) und die Fussgänger 4.3 m (minimale Variante) respektive 5.4 m (maximale Variante) vor dem Kollisionspunkt befunden. Nach der minimalen Variante sei die Kollision (bei einem Anhalteweg von 26.5 m und einer Verzögerung von 4 m/s²) bis 2.4 s respektive 27.1 m vor dem Kollisionspunkt vermeidbar gewesen. Bei der maximalen Variante sei die Kollision (bei einem Anhalteweg von 30.6 m und einer Verzögerung von 5 m/s²) bis 2.3 s respektive 31.4 m vor dem Kollisionspunkt vermeidbar gewesen (vorinstanzliche Akten, Dossier G4/7 und G4/11) [E. 3.3].
Das Kantonsgericht kombinierte nun aber anders.
Die Vorinstanz verweist auf die gutachterlich festgestellten Fahr- und Gehgeschwindigkeiten, die vom Personenwagen und den Fussgängern zurückgelegten Strecken und die dafür benötigte Zeit ab dem ersten möglichen Sichtkontakt bis zum Kollisionspunkt. Sie erwägt, zugunsten der Fahrzeuglenkerin sei von der maximalen Gehgeschwindigkeit von 7 km/h, der minimalen Fahrgeschwindigkeit von 41 km/h und der minimalen von den Fussgängern zurückgelegten Distanz von 4.3 m auszugehen.
DIese Kombination soll nun aber willkürlich sein, weil sie vom Gutachten abweiche:
Dass das Gutachten nicht schlüssig erscheinen sollte, legt die Vorinstanz nicht dar. Vielmehr klammert sie die gutachterlichen Ausführungen in ihren eigenen Berechnungen im Ergebnis aus. Sie belässt es damit, aus zwei Varianten verschiedene Grössen zu kombinieren (minimale Fahrgeschwindigkeit, maximale Gehgeschwindigkeit, minimale Wegstrecke der Fussgänger). Die Vorinstanz vermengt nach den zutreffenden Ausführungen der Beschwerdeführerin die jeweils in sich geschlossene minimale und maximale Variante in unzulässiger Weise. Es wird im vorinstanzlichen Entscheid nicht aufgezeigt, inwiefern die minimale Variante (mit einer tiefen Fahr- und Gehgeschwindigkeit) und die maximale Variante (mit einer hohen Fahr- und Gehgeschwindigkeit) nicht überzeugend sein sollten. Umstände, welche auf inhaltliche Mängel hinweisen und die Überzeugungskraft der Expertisen erschüttern könnten, legt die Vorinstanz nicht dar. Indem sie ohne erkennbaren Grund vom Gutachten abweicht, verfällt sie in Willkür (E. 3.5).
Wenn mich nicht alles täuscht, liegt der Fehler hier aber nicht beim Kantonsgericht SG, sofern es lediglich anders kombiniert hat als der Gutachter. Die Kombination aus zwei Fahrgeschwindigkeiten und zwei Gehgeschwindigkeiten führt zu vier Varianten, von denen das KGer die für die beschuldigte Person günstigste gewählt hat und auch wählen musste. Aber ich bin deshalb nicht sicher, weil das Bundesgericht auch von einer Kombination von maximaler Gehgeschwindigkeit und minimaler Wegstrecke der Fussgängerin spricht. Das wäre dann in der Tat nicht sachgerecht.