Wir sind das Gesetz
Das Bundesgericht festigt seine umstrittene Praxis zur Anordnung von Sicherheitshaft in analoger Anwendung von prozessualen Vorschriften (BGE 1B_111/2020 vom 31.03.2020, Publikation in der AS vorgesehen; vgl. dazu die Medienmitteilung dazu sowie meinen früheren Beitrag).
Es geht um die Rechtfertigung der Sicherheitshaft (Art. 229 ff. StPO) in massnahmerechtlichen Nachverfahren, für die keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, was grundsätzlich gegen Art. 5 Ziff. 1 EMRK verstösst (EGMR, 03.12.2019, I.L. gegen die Schweiz, Nr. 72939/16). Dem Bundesgericht geht es nun darum, dem EGMR zu demonstrieren, dass sich die analoge Anwendung auf eine lang andauernde und konstante Praxis stützt, die ständig gefestigt wird. Dies könnte den Anforderungen des EGMR an eine gesetzliche Grundlage an sich genügen (den schweizerischen Rechtsauffassungen allerdings mit Sicherheit nicht, aber das interessiert ja nicht). Er hat dies aber im oben zitierten Entscheid erst im Dezember 2019 noch in Abrede gestellt. Soweit ich weiss, hat die Schweiz den Entscheid weitergezogen.
Mir geht die anaologe Anwendung von grundrechtsbeschränkenden Bestimmungen ohnehin schon in den falschen Hals. Was mich aber fast noch mehr ärgert ist, dass man diese Analogie-Krücke nur deshalb braucht, weil die Vollzugsbehörden nicht vorausschauend genug planen. Das alles wäre vermeidbar. Vielleicht sieht das dann auch die Grosse Kammer.
Die Praxis wird ständig gefestigt, weil es mE noch NIE eine Entlassung gab. Die Voraussetzungen sind immer erfüllt. Also sind es dann überhaupt noch Voraussetzungen?
Die CH hat den Entscheid an die grosse Kammer gezogen.
Dass in der vorliegenden Konstellation ein formellgesetzliche Grundlage sicher richtig und wichtig ist, steht wohl ausser Frage. Allerdings besteht diese nicht. Rein rechtlich ist die Folge klar: Keine Haft ohne gesetzliche Grundlage.
Doch was wäre die Folge einer solchen Praxis? Potentiell oder tatsächlich höchst gefährliche rechtskräftig verurteilte Gewaltstraftäter kommen – unter bewusster oder unbewusster Ausnützung einer Gesetzeslücke – zumindest vorübergehend in Freiheit. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass die Gefahr der Ausführung eines Schwerverbrechens droht, wenn diese Personen nicht inhaftiert werden/bleiben. Wie hoch diese Gefahr im Einzelfall tatsächlich ist, divergiert von Fall zu Fall und darüber soll auch in einem ordentlichen Verfahren gestritten werden dürfen. Kommt das Gericht zum Schluss, dass die schwere Gefahr fortbesteht, wird der Person im nachträglichen richterlichen Verfahren durch Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme oder der Verwahrung wieder die Freiheit entzogen, hierfür besteht die rechtliche Grundlage. Solchen Personen war also bereits vorher rechtskräftig die Freiheit entzogen, und sie wird ihnen auch nachher wieder entzogen – mit formellgesetzlicher Grundlage, Rechtsmitteln etc. Nur währenddessen – zwischen Ablauf der alten Massnahme und Anordnung der neuen Massnahme – soll die Person in Freiheit sein, und zwar – mangels gesetzlicher Grundlage – in jedem Fall, zwingend, ganz egal wie gefährlich diese Person ist?
Die Rechtsgüterabwägung ist in solchen Fällen schnell gemacht:
entweder wird die persönliche Freiheit eines Straftäters eingeschränkt (zu Recht oder zu Unrecht, das möchte ich mal offen lassen), oder aber elementare Rechtsgüter von unbeteiligten Dritten werden gefährdet, wie die sexuelle Integrität, die körperliche Unversehrtheit und das Leben selbst.
Verkürzt formuliert: Wer vorbestrafte Mörder bei hoher Rückfallgefahr nur deswegen nicht inhaftiert, weil die formellgesetzliche Grundlage fehlt, stellt deren Freiheitsrecht über das Recht auf Leben für deren neuen Opfer.
Jemandem zu Unrecht die Freiheit entziehen ist schlimm. Aber der Freiheitsentzug ist vorübergehend und kann mit Genugtuung teilweise kompensiert werden. Der Tod ist dauerhaft, nicht umkehrbar und nicht kompensierbar. Schwere Traumata (wie z.B. nach Vergewaltigungen) sind in ihren Auswirkungen oft ähnlich. Nicht nur Täter leiden unter Freiheitsentzug, ihre Opfer leiden unter den ihnen zugefügten Straftaten oft auch lebenslang. Oft leiden Opfer mehr als Täter. Und Opfer sind für ihr Leiden resp. ihr Schicksal in aller Regel nicht verantwortlich, (verurteilte) Täter im Regelfall dagegen sehr wohl.
Es ist – wie wir in der aktuellen Krise besonders gut sehen – die oberste Pflicht des Staates, die Gesundheit und das Leben seiner Bürger/Einwohner zu schützen. Diesem ist alles andere unterzuordnen. Aktuell werden zahlreiche Grundrechte aller Einwohner (ohne dass diese irgendein Tatverdacht träfe) massiv eingeschränkt, unsere Wirtschaft stark beschädigt – alles auf Verordnungsstufe übrigens, trotz Art. 36 BV – einfach weil es notwendig ist, Leben zu retten.
Leben rettet das Bundesgericht auch mit seiner konstanten und wohlüberlegten Rechtsprechung. Sie mag formell nicht unbedingt rechtmässig sein, sie ist aber gerecht und richtig. Auch wenn es uns Juristen widerstreben mag, manchmal hilft es doch, gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Wenn es wie hier um Leben und Tod geht, ist es sogar unabdingbar. Wer meint, dass es das “Recht” tatsächlich ermöglichen soll und will, dass jemand einen Unschuldigen tötet, obwohl diese Tötung vorherseh- und verhinderbar war, hat meiner Meinung nach entweder nicht verstanden, dass das Recht der Gesellschaft dient und nicht umgekehrt oder eine sehr merkwürdige Vorstellung der Gesellschaft.
@Ankläger: Tolles Plädoyer gegen den Rechtsstaat. Ich erinnere daran, dass diese Fälle nicht plötzlich vom Himmel fallen. Wird das Nachverfahren rechtzeitig eröffnet, ist Sicherheitshaft gar nicht notwendig.
@kj: Soweit ich das sehe, widerspricht Ihnen niemand darin, dass es in diesen Fällen sinnvoll wäre, frühzeitig zu agieren (was wahrscheinlich eine finanzielle aufdotierung der Justiz bedingen würde) oder die bestehende gesetzliche Lücke durch den Gesetzgeber zu schliessen (welcher Gesetzesentwurf bereits vorliegt). Die Lücke aber ist ein gesetzgeberisches Versehen und allein aus diesem Grund weitere Opfer zu riskieren, wäre ideologische Verblendung.
@Thomas Lieven: wenn das ideologische Verblendung ist, dann nehme ich das gerne hin. Ich frage mich, wie man es nennen will, wenn man alle rechtlichen Grundsätze beim ersten Windstoss über Bord wirft. Welche Opfer hat denn die angebliche Lücke bisher produziert?
Der Gesetzgeber muss beim Erlass der Gesetze die unterschiedlichen Interessen und möglichen Konflikte vorwegnehmen. Das Recht dient grundsätzlich erst einmal der Vorbeugung von Konflikten.
@ herr ankläger. Mit verlaub, es ist keinesfalls evident, dass der staat als oberstes ziel den schutz der gesundheit oder überhaupt ein oberstes ziel hätte. Freiheit zu gewähren, ist genauso ein ziel des staates, welches mindestens ebenso wichtig ist, wie die von Ihnen genannten ziele. Das zeigt nicht zuletzt die von Ihnen zitierte corona krise. Die einschränkung der freiheit ist äusserst schmerzhaft, für jemanden zumindest, der freiheit als ziel des staates schätzt. Also verachten Sie das nicht. Im Übrigen ist Ihr vergleich mit der corona krise aber nicht sehr treffend. Oder wollen Sie allen ernstes den gewöhnlichen gang der rechtspflege mit einer notrecht-situation gleichsetzten? A la wir opfern einem obersten ziel alle unsere differenzierungen, weil es einem mutmasslich guten dient? Dann sind wir nicht weit weg von ideologien, die wir beide sicher nicht vertreten wollen.
Sehr geehrter Herr Jeker
Sie schreiben, die Analogiekrücke sei nur notwendig, weil die Vollzugsbehörden nicht vorausschauend genug planen würden und das Problem sei vermeidbar.
Diese Kritik mag allenfalls zutreffen, wenn es um die Verlängerung oder Abänderung einer stationären therapeutischen Massnahme geht nach Art. 59 Abs. 4 StGB, Art. 60 Abs. 4 oder Art. 62c Abs. 6 StGB. Hier könnte die Vollzugsbehörde durch einen früher gestellten Verlängerungsantrag das Problem der Sicherheitshaft ohne formellgesetzliche Grundlage umgehen. Allerdings müsste dann ein solcher Antrag oftmals schon ein Jahr vor Ablauf der 5-Jahresfrist gestellt werden, womit Verlängerungsverfahren geführt werden, die vielleicht nicht notwendig würden, weil nach 5 Jahren (nicht aber nach 4 Jahren) ein Straftäter insoweit therapiert werden konnte, dass seine Freilassung verantwortbar ist (eine Verlängerung also nicht notwendig ist). Würde man Ihrem Rat folgen, würde sich die Therapiedauer auf 4 Jahre verkürzen. Berücksichtigt man zusätzlich noch, dass sich gemäss dem von Ihnen gescholtenen Bundesgericht die 5-Jahres-Frist nicht ab Massnahmevollzugsbeginn berechnet, sondern ab Urteilsdatum, und dass ab Urteilsdatum bis Massnahmevollzugsbeginn oftmals Monate, wenn nicht 1-2 Jahre vergehen können, sei es aufgrund mangelnder Kooperation des Straftäters, fehlender geeigneter Massnahmeplätze (“Vollzugsnotstand”) oder beidem, würde sich die mögliche effektive Therapiedauer nochmals erheblich verkürzen, so dass vor einem Verlängerungsantrag im Extremfall nur 2-3 Jahre effektive Therapie möglich sind, was halt nunmal leider vielmals nicht ausreicht.
Berücksichtigt man zudem, dass gegen die Verlängerung einer Massnahme Rechtsmittel bestehen (Obergericht und Bundesgericht) und dass dann die ursprüngliche Massnahme im Rechtsmittelverfahren abläuft, müsste man einen Verlängerungsantrag nochmals 1-2 Jahre früher stellen (ausser man sieht den erstinstanzlichen nachträglichen richterlichen Entscheid als vollstreckbar an obwohl nicht rechtskräftig, wofür Argumente dafür und dagegen existieren). Eine wirklich vorausschauende Vollzugsbehörde müsste demnach den Verlängerungsantrag – um Sicherheitshaft auf jeden Fall und auch für das Rechtsmittelverfahren zu umgehen – gleich nach Beginn des Massnahmevollzugs stellen? Das kann es ja nun wirklich nicht sein.
Unberechtigt ist Ihre Kritik an den Vollzugsbehörden dagegen in den Fällen von Art. 62a Abs. 1 lit. b StGB und Art. 62c Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 und 4 StGB: Damit in diesen Fällen nachträglich eine andere stationäre Massnahme oder die Verwahrung angeordnet werden kann, muss die ursprüngliche Massnahme aufgehoben sein – so der explizite Gesetzeswortlaut. Ein Antrag nach Art. 62c Abs. 3 oder 4 StGB kann und darf erst gestellt werden, nachdem die Massnahme aufgehoben worden ist. Wenn nun aber eine Massnahme aufgehoben wird, enden damit die Kompetenzen der Vollzugsbehörde. Und auch eine bessere Vollzugsplanung würde das Dilemma nicht lösen, weil ein Antrag vor Aufhebung der Massnahme gar nicht möglich ist. Diese Gesetzeslücke ist vom Gesetzgeber alleine zu verantworten.
Sollte ich einen Überlegungsfehler gemacht haben, dann nur zu, widerlegen Sie mich bitte!
@stefan.fraefel: auch bei 62a und 62c ist das Problem hausgemacht. Was Sie sagen, steht nicht im Gesetz, sondern wurde vom Bundesgericht erfunden.
Strasbourg, le 17 avril 2020
AMC/elf
Requête no 72939/16
I.L. c. Suisse
Maître,
Je vous informe que le collège de cinq juges de la Grande Chambre, composé des
juges Linos-Alexandre Sicilianos, Robert Spano, Síofra O’Leary, Aleš Pejchal and Branko Lubarda, a
décidé le 15 avril 2020 de ne pas accepter la demande du Gouvernement de renvoyer l’affaire
susmentionnée devant la Grande Chambre.
En application de l’article 44 § 2 de la Convention, l’arrêt du 3 décembre 2019 est donc
devenu définitif le 15 avril 2020. Il est disponible sur le site Internet de la Cour (www.echr.coe.int)
(articles 44 § 3 de la Convention et 104A du règlement de la Cour).