Wir strafen
Nach Art. 52 StGB sieht die “zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab, wenn Schuld und Tatfolgen geringfügig sind.” Damit der Staat seine Autorität nicht verliert, darf die Strafbefreiung nicht leichthin verfügt werden. Das Appellationsgericht Basel-Stadt ist bei der Strafbefreiung gemäss Bundesgericht deutlich zu weit gegangen (BGer 6B_519/2020 vom 27.09.2021).
In der Sache ging es um eine Bolivianerin, die 1994 in die Schweiz eingereist war und hier (mit Unterbrüchen) als Haushaltshilfe und Betreuerin betagter Menschen tätig war. Erst im Jahr 2016 erhielt sie auf Härtefall-Gesuch hin eine Aufenthaltsbewilligung. Zuvor war sie somit wegen rechtswidrigen Aufenthalts und Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung strafbar. Die Justiz des Kantons BS hat die Frau aber in Anwendung von Art. 52 StGB nicht bestraft. Das ging der Staatsanwaltschaft BS zu weit, weshalb sie den Fall an das Bundesgericht weiterzog und gewann. Weder das Verschulden noch die Tatfolgen sind gemäss Bundesgericht geringfügig:
Bereits aufgrund der langen Dauer ihres rechtswidrigen Aufenthalts und ihrer unbewilligten Erwerbstätigkeit kann im Quervergleich zu typischen unter dieselben Gesetzesbestimmungen fallenden Taten nicht von einem geringfügigen Verschulden i.S.v. Art. 52 StGB ausgegangen werden. Die Beschwerdeführerin legt überzeugend dar, dass Sans-Papiers bei den Tatbeständen des rechtswidrigen Aufenthalts und der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung als Regelfall herangezogen werden können. Mit ihr ist nicht ersichtlich, inwiefern sich die Beschwerdegegnerin bzw. ihr Verschulden massgeblich von der Mehrheit der unter diese Tatbestände fallenden Personen unterscheidet. Zwar trifft zu, dass sie mit der Einreichung des Härtefallgesuchs den Willen zeigte, ihre Situation zu legalisieren. Dies geschah jedoch insbesondere zu ihren eigenen Gunsten. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend einwendet, führt der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin die strengen Voraussetzungen für eine Härtefallbewilligung erfüllte, nicht dazu, dass das Unrecht des jahrelangen illegalen Aufenthalts und der unbewilligten Erwerbstätigkeit ausgeglichen wird bzw. die Widerhandlungen gegen das AuG bzw. AIG auf geringfügigem Verschulden basieren. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, inwiefern das Verschulden der Beschwerdegegnerin im Vergleich zum Verschulden der Mehrheit der Personen, welche die Tatbestände des rechtswidrigen Aufenthalts und der Ausübung einer Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung erfüllen, unerheblich ist. Für eine Strafbefreiung müssen die Voraussetzungen (geringfügige Schuld und Tatfolgen) kumulativ vorliegen. Da es vorliegend bereits an der Geringfügigkeit der Schuld fehlt, müsste auf die Tatfolgen nicht mehr weiter eingegangen zu werden. Allerdings sind auch diese entgegen der Vorinstanz im Quervergleich nicht geringfügig. Zwar ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz davon ausgeht, die Beschwerdegegnerin sei als Haushaltshilfe und Betreuerin von betagten Personen in einer Nische des Arbeitsmarkts bzw. in einer (Niedriglohn-) Branche tätig gewesen, die durch Schweizer oder EU-Staatsangehörige nicht vollständig abgedeckt wird. Allerdings trifft dies auch? auf den Regelfall, der vorliegend zum Vergleich heranzuziehen ist, zu (vgl. <https://www.ekm.admin.ch> unter Zuwanderung & Aufenthalt/Sans-Papiers, besucht am 6. September 2021). Allfällige von der Beschwerdegegnerin verursachte Einkommensverluste für den öffentlichen Sektor mögen zwar mit der Vorinstanz minimal gewesen sein, allerdings hebt sie sich damit in einem Quervergleich nicht vom Regelfall ab. Folglich fehlt es auch an der Geringfügigkeit der Tatfolgen. Angesichts des Umstands, dass Art. 52 StGB nur zurückhaltend anzuwenden ist, führen auch die weiteren Argumente der Beschwerdegegnerin (Grund der Einreise, Verhalten in der Schweiz, Zeitablauf seit der Tat, Verletzung des Beschleunigungsgebots) nicht dazu, dass vorliegend Raum für eine Strafbefreiung wegen fehlendem Strafbedürfnis besteht. Jedoch wird die Vorinstanz diese Vorbringen im Rahmen der ordentlichen Strafzumessung gemäss Art. 47 ff. StGB zu würdigen haben. Insgesamt handelt es sich vorliegend nicht um einen besonders leichten Fall mit offensichtlich fehlendem Strafbedürfnis, weshalb die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie von einer Bestrafung der Beschwerdegegnerin absieht (E. 2.5).
Massgebend für die Geringfügigkeit ist somit der Regelfall, von dem Schuld und Tatfolgen massgeblich abweichen müssen. Was hier offenbar keine Rolle spielte war der verwaltungsrechtliche Härtefall. Bereits das Vorliegen eines Härtefalls begründet m.E. die Geringfügigkeit, zumal der Härtefall ja wohl schon vorlag, bevor das Gesuch gestellt wurde. Darin liegt doch eine erhebliche Abweichung vom Regelfall. Letztlich wird die Frau ja nicht verfolgt, weil ihr Aufenthalt und ihre Tätigkeit materiell illegal waren, sondern weil sie das Gesuch zu spät gestellt hat. Aber sowas lässt die die Schweiz eben nicht bieten. Wir strafen.
Unabhängig davon, dass es m.E. bereits aus ethischer Sicht grundsätzlich verwerflich ist, Personen, die jahrelang in der Schweiz ehrbare Tätigkeiten wie z.B. Alterspflege verrichteten und sich dabei möglichst unsichtbar verhielten (sicherlich keine Gesundheits- und Sozialhilfekosten versursachten), zu bestrafen, ist das Urteil des BGer auch in rechtlicher Hinsicht kritisch zu würdigen.
Das Verhalten des Täters muss im Quervergleich zu typischen unter dieselbe Gesetzesbestimmung fallenden Taten insgesamt – vom Verschulden wie von den Tatfolgen her – als unerheblich erscheinen, so dass die Strafbedürftigkeit offensichtlich fehlt. Die Behörde hat sich mithin am Regelfall der Straftat zu orientieren (BGE 135 IV 130, E. 5.3.3). Daher kann ich Ihrem Argument, wonach die Härtefallklausel per se den Regelfall ausschliesse, zustimmen.
Genau wir strafen, während dem der Kanton Glarus zB das Raumplanungsgesetz seit Jahren nicht unsetzt und damit sein Bürger mit Lärm und Zersiedelung schädigt, die Gemeinde Glarus verzichtet dann gleich Vollständig auf eine Erschliessungpslanung womit die Lärmschutzverodnung zur lächerlichkeit verkommt.
Die Gemeinde Gstaad nimmt es mit der Lex Koller nicht so genau, und die Steuerbehörden im
kanton Zürich streichen die Kombination von Velo & Bus seit einigen Jahren vielen Steuerpflichtigen weg, die Ermessensverfügung wird dann aber nicht ordentlich (per Einschreiben) eröffnet, man redet dann von Zumutbarkeit, diese kennt das Steuergesetz aber gar nicht, überhaupt werden Verfügungen grossmehrheitlich nicht ordentlich eröffnet, bei den Ergänzungsleistungen etc ist das Standart.
Auswanderungswilligen wird konsequent mitgeteilt das Sie erst abgemeldet werden bzw die Bescheinigung erhalten wenn Sie die Steuern bezahlt haben obwohl dies eine Nötigung darstellt, steht dies auf praktisch allen Auswanderungsformularen der Gemeinden.
Der wahre Verbrecher ist der Staat und jeder Bürger ist ein trottel der sich diesem Rechstaat noch unterwirft….
Wir werden für lächerlichkeiten bestraft während dem der Staat mit der ganz grossen Kelle anrührt
@John: In diesem Blog geht es um Strafprozessrecht bzw. um Strafrecht. Weder das Sozialversicherungsrecht noch das Steuerrecht verpflichten die Durchführungsorgane der Sozialversicherungen (z.B. Ergänzungsleistungen) oder die Steuerbehörden Verfügungen als eingeschriebenen Brief zu versenden. Auch eine mit B-Post versandte oder persönlich übergebene Verfügung ist somit “ordentlich” eröffnet. Schauen Sie das nächste Mal in die Gesetze, Verordnungen und Weisungen bevor Sie kommentieren. Standard schreibt sich übrigens mit einem “d” am Schluss, auch im Englischen und im Französischen. Es ist mir ein Rätsel, wieso so viele in der Schweiz das Wort Standard mit einem “t” am Schluss schreiben.
Und wie Sie die Fristen bei mit B-Post versendeten Verfügungen Rechtssicher berechnen können, das wissen Sie sicher auch….
Es geht um den grad der Staatlichen Willkür. Man täuscht Bürger gerne in den Rechtswissenschaften in dem man eben Verfügungen per B-Post versendet so das der betroffene nicht merkt welche tragweite der Brief hat, das gleiche wie mit dem Strafbefehl welcher ja eingentlich eine Offerte sein soll, sicher können Sie mir als eloquenter Jurist, welcher nichts von der Volksmeinung hören will auch schlüssig erklären wie ein normal intelligenter das Wort Strafbefehl als Offerte verstehen soll & kann.
Warum man eine Offerte beieinsprachen muss und diese nicht annehmen soll, entspricht auch nicht dem üblichen Rechtsweg. Aber wahrscheinlich ist das so weil die Offerten alla Strafbefehl so grosszügig und rechtlich fundiert sind (von unseren Starstaatsanwälten die 3 mal durch die RA Prüfung gefallen sind) das der beschuldigte umbedingt gelegenheit haben sollte diese anzunehmen, notfalls halt gezwungen mangels Einsprache….
Stellen Sie sich mal vor Krankenkasse XY sendet Ihnen eine Offerte, die müssen Sie ablehnen sonst haben Sie eine neue Versicherung.
Gesetze, Weisungen und Verordnungen interessieren mich gar nicht mehr, ich richte mich nach dem gesunden Menschenverstand, ich habe gelernt wer der grösste Betrüger und Verbrecher ist, das ist der Staat, ergo ist jeder Bürger ein trottel der sich diesen unterwirft….
Und genau, es geht um Strafprozessrecht und die Frage wesshalb Prozessökonomie vor Rechtstaatlichkeit steht, zB der Gewaltentrennung und so
@kj: wollen Sie wirklich noch alle Nonsense-Kommentare veröffentlichen? Boulevard pur. Interessanter wird der blog dadurch eher nicht. Finde es einfach schade, dass es vielfach nicht mehr um „Fachliches“ – nämlich die StPO geht. Ursprünglich ging es mal um den Strafprozess, nicht?
@StPO: Meine eigenen Beiträge bleiben in der Regel auf das Fachliche beschränkt. Fachfremde Diskussionsbeiträge sind m.E. nicht so störend, dass die Zensur zuschlagen müsste. Das kann man natürlich auch anders sehen, aber ich blocke Fachfremdes jedenfalls bis auf Weiteres nicht.
Weshalb ich Blog tatsächlich ein Genuss ist in einer Zeit wo fast sämtliche Meinung von Privaten zensiert wird.
Ich freue mich sehr über sachfremde Kommentare, die Infos über den Grad der Korruption weitergeben und ich freue mich auch über die kritische Berichterstattung zu den Fällen, die die Korruption in der Justiz im Strafwesen aufzeigen. Dies benötigt es dringend, um die Öffentlichkeit darüber zu informieren.
@MB: ja ja….da finden Sie auf Facebook mit Sicherheit genügend Verschwörungstheorien….Sie müssen wohl auch nicht lange suchen!
Es ist unglaublich wie jemand wie ich erleben kann, wie Schlagwörter der KPDSU und seiner Politoffiziere aus ihren „modernen“ westlichen Tastaturen immer wieder erscheinen „Verschwörungstheoretiker“ war auch so ein liebes Ding der späten UdSSR und ich halte es nach dem Desidenten und Chemiker in der UdSSR S.G. Kara Mursi welcher in den 70ern auf offenem Podium in Moskau sagte „Der Begriff „Verschwörungstheorie“ gewinnt an Wert und wird von vielen Zuhörern als todsicherer Weg verwendet, um einen Gegner zum Schweigen zu bringen „.
Er zahlte es übrigens mit einem Strafverfahren und wegen mangelnder gesetzlicher Grundlage im StGB der Russischen STGB der Zeit kam es zum freispruch, wurde aber trotzdem in einer Psychiatrie „verwahrt“, da man ihm unterstellte eine Gefahr zu sein für die Gesellschaft.
Vielleicht ist das in 5 bis 10 Jahren auch ein Thema bei ihnen, einer Person welcher „Verschwörungstheorien“ verbreiten zu unterstellen geistig krank zu sein und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darzustellen.
Aufpassen sage ich nur…gerade an die jungen Spatzen dort im Westland
gab es zu mindestens in der litauischen Sowjetrepublik den Begriff der „Verschwörungstheorie“. Zu wurde vom zuständigen KGB folgend definiert „