Zu Beginn der ersten Einvernahme …
Die Frage, wie konkret die Hinweise vor der ersten Einvernahme (Art. 158 StPO) formuliert sein müssen, befasst die Rechtsprechung erstaunlicherweise immer wieder. Erstaunlich ist dies, weil nicht ersichtlich ist, wieso die Strafverfolgungsbehörde nicht einfach mit offenen Karten spielen kann. Nicht relevant kann die Frage sein, was die Strafverfolger bereits sicher wissen.
Relevant kann nur sein, worin genau der Verdacht bestehen soll. Die nachfolgenden Ausführungen in einem neuen Urteil des Bundesgerichts (BGer 6B_15/2015 vom 08.08.2016) erscheinen daher als missverständlich.:
Der beschuldigten Person kann mithin zu Beginn der Strafuntersuchung nicht vorgehalten werden, was erst nach Abschluss der Untersuchung als deren Ergebnis feststeht und gegebenenfalls zur Anklage führt. Insofern stösst die vom Verteidiger des Beschwerdeführers vorgetragene Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ins Leere (…). Daran ändert im zu beurteilenden Fall nichts, dass die Strafverfolgungsbehörden bei der ersten Einvernahme des Beschwerdeführers schon Kenntnis von der Aussage des Privatklägers hatten, wonach der Beschwerdeführer jenen mit Fäusten auf den Kopf geschlagen habe (…) und diese in der Haftanordnungsverfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 13. Juni 2013 (…) zitiert werden, zumal bloss aufgrund der Aussage des Privatklägers noch keine konkreten Tathandlungen feststehen, die der beschuldigten Person vorgehalten werden könnten (E. 1.4.1).
Bezüglich der Rechtsbelehrungen wird in der Praxis immer wieder auf die Wahrheitspflicht hingewiesen. Auch das ist für das Bundesgericht unproblematisch:
Es steht ausser Frage, dass die beschuldigte Person weder eine Aussage- noch eine Wahrheitspflicht trifft. Der Beschwerdeführer ist denn auch nicht auf eine Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage hingewiesen, sondern lediglich ermahnt worden, für den Fall, dass er aussage, die Wahrheit zu sagen. Die Aufforderung oder Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, ist nicht gleichbedeutend mit einem Hinweis auf die Wahrheitspflicht. Dies gilt umso mehr, als sie hier unmittelbar im Anschluss an die Orientierung über das Aussageverweigerungsrecht erfolgte. Es handelt sich hierbei lediglich um eine moralische Ermahnung (vgl. Urteil 6B_604/2012 vom 16. Januar 2014 E. 3.4.4), welche die Bedeutung und den Ernst der Befragung unterstreichen soll. Zudem verweist die Vorinstanz in diesem Zusammenhang zu Recht auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach die Ermahnung zur Wahrheit im Kontext mit dem Hinweis auf die Rechtspflegedelikte zu sehen ist (…), zumal ein allfälliges Recht zu lügen nur innerhalb der Grenzen des Strafrechts Geltung erlangen kann (…). (E. 2.4.2).
Eine beschuldigte Person wird in der Einvernahmesituation wohl eher nicht zu solchen Gedankengängen fähig sein. Wenn über Rechte und Pflichten in einer verständlichen Sprache aufzuklären ist, was das Gesetz ja immerhin vorschreibt, dann könnte man ja einfach auf moralische Ermahnungen verzichten.
Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht, nicht die Moral (die ja auch nirgends festgeschrieben ist und von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist). Insofern ist der bundesgerichtliche Entscheid natürlich falsch.
Dieser Entscheid ist in bedenklicher Weise verfehlt und prozessrechtswidrig,
Eine moralische Ermahnung zur Wahrheit hat keine Rechtsgrundlage und nichts mit dem Gebot der Justizförmigkeit des Verfahrens zu tun.
Gemäss Bundesgericht müsse beim Tatvorhalt in der ersten Einvernahme keine konkrete Tathandlung gemäss aktueller Verdachtslage vorgehalten werden und müsse dieser Vorhalt auch nicht zu Beginn der Einvernahme erfolgen. Damit setzt sich das Bundesgericht über die zwingende Bestimmung von Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO hinweg.
Gemäss Gesetz verlangt ist eine Orientierung bzgl. Deliktsvorwurf (StGB-Artikel, allenfalls soweit bereits weiter eingrenzbar unter Angaben zu Zeit und Ort): Ein umfassender und detaillierter Vorhalt bereits zu Beginn ist (gesetzlich) nicht gefordert, sondern eben eine einleitende Orientierung, um was es geht bei der Befragung, also „welche Straftaten Gegenstand“ sind… die anschliessende Verteidigungstaktik kann somit darauf ausgelegt werden… 😉
Da sind Lehre und Rechtsprechung aber anderer Meinung. Der Hinweis auf die Taktik ist aber natürlich wichtig. Er bedeutet bezüglich Aussageverhalten, dass man im Vorverfahren nie aussagen darf.
Zusammengefasst: Ein ziemlich aufwendiger Weg um zu erfahren, worin ungefähr die Tatvorwürfe bestehen … könnte man auch schriftlich erledigen.
In diesem Zusammenhang erlebe ich gelegentlich auch die Praxis (bei Delikten, für welche auch Orginationsfragen strafrechtlich relevant sind, zB bei den Regeln der Baukunst), dass zunächst des Geschäftsführer als Auskunftsperson zur Sache befragt und anschliessend gestützt auf dessen Aussagen und nach vorgängiger Belehrung zur Wahrheit (!), diesen einige Wochen später als Beschuldigten (strafrechtlich Verantwortlichen) befragt !!!
Sagt der Beschuldigte nichts, darf dies nie zu seinen Lasten ausgelegt werden. Sagt der Beschuldigte jedoch aus, so hat er tatsächlich die Wahrheit zu sagen. Was auf den ersten Blick merkwürdig anmutet, ist meiner Ansicht nach richtig: Sagt er nämlich nicht die Wahrheit, so ist das zwar als Selbsbegünstigung unmittelbar straflos, aber das Gericht darf daraus negative Rückschlüsse bei der Beurteilung des Hauptvergehens ziehen. Dies wurde unter anderem im hier diskutierten serbischen Rentnerfall dem Beschuldigten zum Verhängnis und erlaubt allgemein Verurteilungen, bei denen lediglich die Aussagen von Opfer und Angeklagten vorliegen. Die Warnung des Einzelrichters an den Beschwerdeführer 1 in vom Gericht angeführten 6B_604/2012, E3.4.4, im Aussagefall die Wahreit zu sagen, verletzte kein Bundesrecht. Sie erlaubte es vielmehr dem Angeklagten, die Folgen seiner Aussage selbst abzuwägen.
Vorliegend hatte die Strafbehörde allerdings den Beschuldigten gehalten, die Wahrheit zu sagen, OHNE die Qualifikation „für den Fall, dass er eine Aussage mache“. Dies gibt das Gericht in E2.4.1 selbst zu mit der Feststellung „Im Anschluss daran (an die Miranda-Warnung) forderte sie (die Beschuldigten) der verfahrensleitende Staatsanwalt auf, die Wahrheit zu sagen“. Die Verurteilung stützt sich rechtsfehlerhaft auf 6B_604/2012.
Der Punkt geht unter all den anderen Erwägungen fast unter. Ob man diese Rüge prominenter hätte herausarbeiten können, ist eine taktische Frage.
Und solange die Rechtsschriften nicht veröffentlicht werden, werden wir nie wissen, wie prominent eine Rüge vorgetragen wurde.