Zum Anklageprinzip bei Strassenverkehrsdelikten sowie zum Abstand beim Überholen von Radfahrern (im Kreisverkehr)
Einer beschuldigten Person muss klar sein, ob ihr vorsätzliche oder fahrlässige Tatbegehung vorgeworfen wird. Das gilt gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts “grundsätzlich” auch für die Anklage von Verkehrsregelverletzungen. Vielleicht gilt das deshalb nur grundsätzlich, weil die Ankläger das immer und immer wieder übersehen oder sich nicht festlegen wollten, was ja so schwierig nicht wäre.
Einem aktuellen Entscheid des Bundesgerichts ist zu entnehmen, was denn nun grundsätzlich gelten soll (BGer 6B_1235/2021 vom 23.05.2022). Hier ein paar Zitate aus dem Entscheid (Hervorhebungen durch mich):
[Es] muss klar sein, ob dem Angeklagten Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorgeworfen wird (BGE 120 IV 348 E. 3c). Dies gilt grundsätzlich auch für die Anklage von Verkehrsregelverletzungen (…), die sowohl bei vorsätzlicher als auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sind (E. 1.5.2).
Bei einer Anklage wegen Verletzung der Verkehrsregeln ist nach der Rechtsprechung zumindest von einer angeklagten fahrlässigen Tatbegehung auszugehen, es sei denn, die Anklage beinhalte einen darüber hinausgehenden Vorwurf eines vorsätzlichen Handelns (E. 1.5.2).
Die für die Annahme von Fahrlässigkeit erforderliche Pflichtverletzung ergibt sich dabei, auch wenn in der Anklage nicht explizit erwähnt, aus der im Strassenverkehr allgemein geltenden Pflicht zur Aufmerksamkeit (vgl. Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV) und der als bekannt vorausgesetzten Kenntnis der Verkehrsregeln (vgl. Art. 14 Abs. 1 und 3 lit. a SVG) [E. 1.5.2].
Die Schilderung des objektiven Tatgeschehens reicht nach der Rechtsprechung für eine Anklage wegen vorsätzlicher Tatbegehung aus, wenn sich daraus die Umstände ergeben, aus denen auf einen vorhandenen Vorsatz geschlossen werden kann (E.1.5.2).
Nicht zwingend ist daher, dass sich die Anklage explizit dazu äussert, ob der beschuldigten Person eine fahrlässige oder (eventual-) vorsätzliche Verletzung der Verkehrsregeln vorgeworfen wird (E. 1.5.2).
Das ist ein gutes Beispiel dafür, was Juristen unter “grundsätzlich” verstehen.
Der Sachverhalt selbst enthält übrigens – jedenfalls für Radfahrer – erstaunliche Feststellungen, wie etwa diese hier:
Velofahrer sind, wenn sie mit einem zu knapp bemessenen seitlichen Abstand überholt werden, in besonderem Masse der Gefahr ausgesetzt, in der Fahrsicherheit beeinträchtigt zu werden, ins Schwanken zu geraten und zu stürzen. Pflichtgemässe Vorsicht gebietet daher dem Überholenden, seine Geschwindigkeit anzupassen und den Sicherheitsabstand so weit zu bemessen, dass er dem Radfahrer ausreichenden Raum belässt, die Fahrt fortzusetzen, ohne sich oder andere zu gefährden, dass er ihn also nicht nur nicht streift, sondern auch sonstwie nicht aus dessen Fahrbahn verdrängt oder ihn unsicher macht (BGE 86 IV 107 E. 3; 81 IV 85 E. 4; Urteil 6B_576/2007 vom 22. Januar 2008 E. 4.2) [E. 3.3.2].
Hier wurde die Radfahrerin im Kreisel überholt und gestreift, wobei Ersteres nicht “grundsätzlich” verboten ist (E. 3.4.1). Im Rest der Welt ist es – soweit mir bekannt – verboten und der gesetzliche Mindestabstand beträgt in den meisten Ländern 1.5 Meter.