Zum Herrschaftsbereich einer Strafkammer
Was im Herrschaftsbereich eines Gerichts liegt, ist ihm bekannt. Gestützt auf diese Fiktion kassiert das Bundesgericht einen Entscheid einer Strafkammer in einem Ausstandsverfahren, die nicht wissen wollte, was ihre Zivilkammer schon wusste (BGer 1B_188/2014 vom 01.07.2014).
Das Bundesgericht stützt sich dabei unter anderem auf die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes:
Der Beschwerdeführer macht geltend, Einzelrichter B. habe als Zivilrichter bereits den gleichen Sachverhalt festgestellt und beurteilt, der Gegenstand des Strafverfahrens sei. Das Obergericht hat eingeräumt, dass identische Fragestellungen in einem Zivil- und einem Strafverfahren den Anschein der Voreingenommenheit des ersten Richters für das zweite Verfahren begründen können (…). Welches die zu beurteilenden Fragestellungen tatsächlich waren bzw. sind, hat das Obergericht jedoch nicht untersucht, obwohl der Beschwerdeführer den bereits ergangenen Entscheid exakt bezeichnet hat (…) und das anschliessende Berufungsverfahren (mit den Vorakten) beim gleichen Obergericht hängig war, was dem Obergericht ebenfalls bekannt war (…). Die wichtigsten Grundlagen zur einzelfallbezogenen Beurteilung waren somit im Herrschaftsbereich des Obergerichts und dort verfügbar. Statt sich für die Beurteilung auf die ihm zugänglichen Unterlagen zu stützen, hat sich das Obergericht mit der Feststellung begnügt, der Beschwerdeführer habe eine blosse Behauptung aufgestellt und die angeblich gleichen Fragen nicht genügend dargelegt. Auch wenn nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift (Art. 59 Abs. 1 StPO) im Interesse eines raschen Entscheids ohne weiteres Beweisverfahren über die Begründetheit eines Ausstandsgesuchs zu entscheiden ist, hat der Beschwerdeführer mit dem konkreten Hinweis auf das möglicherweise parallele Verfahren doch hinreichend glaubhaft gemacht (Art. 58 Abs. 1 StPO), dass eine Ausstandsproblematik vorliegen könnte, deren Beurteilung den (beantragten) Beizug der – am gleichen Gericht und deshalb ohne Weiteres greifbaren – Verfahrensakten erforderte. Indem sie auf diese Vervollständigung der Urteilsgrundlage verzichtet hat, hat die Vorinstanz trotz eingeschränktem Untersuchungsgrundsatz in diesem Bereich (Art. 6 i.V.m. Art. 56 ff. StPO) die Vorschriften über die Beurteilung von Ausstandsbegehren und das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt (vgl. statt vieler BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f.).
Möglich ist, dass die Strafkammer gerade deshalb die “greifbaren” Zivilakten nicht konsultiert hat, weil sie ihre Unbefangenheit wahren wollte. Das Urteil des Bundesgericht erachte ich aber dennoch als richtig. Mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit muss man selbst in einem Land sorgsam umgehen, das fremde Richter im Grund gerade wegen ihrer Unabhängigkeit ablehnt.
Darf man aus diesem Urteil schliessen, dass der Beizug von Akten keine Beweiserhebung ist bzw. der Beizug kein “Beweisverfahren” darstellt? Entsprechend müsste ein allfälliger Beizug möglich sein, ohne dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich dazu zu äussern? Der Entscheid mag pragmatisch richtig sein, wirft aber Fragen auf.