Zum Indizienbeweis
Die Staatsanwaltschaft AR unterliegt mit einer Willkürbeschwerde vor Bundesgericht (BGer 6B_931/2021 vom 15.08.2022). Ich erwähne den Entscheid wegen den Erwägungen des Bundesgerichts zum Indizienbeweis. Die sind zwar nicht neu, aber immer wieder in Erinnerung zu rufen:
Beim Indizienbeweis wird aus bestimmten Tatsachen, die nicht unmittelbar rechtserheblich, aber bewiesen sind (Indizien), auf die zu beweisende, unmittelbar rechtserhebliche Tatsache geschlossen. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich allein betrachtet nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache oder Täterschaft hindeuten und insofern Zweifel offen lassen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das den Schluss auf den vollen rechtsgenügenden Beweis von Tat oder Täter erlaubt. Würdigt das Gericht einzelne belastende Indizien willkürlich oder lässt es entlastende Umstände willkürlich ausser Acht, führt dies nicht zwingend zur Aufhebung des angefochtenen Urteils durch das Bundesgericht. Die Beschwerde ist nur gutzuheissen, wenn der Entscheid auch bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich ist. Der Beschwerdeführer, der vor Bundesgericht eine willkürliche Beweiswürdigung rügt, darf sich daher nicht darauf beschränken aufzuzeigen, wie einzelne Indizien willkürfrei zu würdigen gewesen wären (Urteile 6B_134/2021 vom 20. Juni 2022 E. 1.4.2; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.4, nicht publ. in: BGE 147 IV 176; 6B_1031/2019 vom 1. September 2020 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 146 IV 311; je mit Hinweisen) [E. 4.3.1, Hervorhebungen durch mich].
Klar ist einerseits, dass auch Indizien (also nicht unmittelbar rechtserhebliche Tatsachen), auf die sich ein Urteil stützt, bewiesen sein müssen. Andererseits schadet es nicht, wenn einzelne Indizien willkürlich gewürdigt werden. Solche Indizien können somit nicht Teil des Beweisergebnisses sein. Man kann sie nach dieser Rechtsprechung also wegdenken und auch ohne sie auf den Beweis der fraglichen Tatsache schliessen.
Mich würde interessieren, was bspw. Popper oder was Naturwissenschaftler davon halten. Bei Popper bin ich mir ziemlich sicher. Okay, bei den anderen auch. Doch wir Juristen sind bekanntlich keine Wissenschaftler und können mit solchen Fragen etwas grosszügiger umgehen, dies auch unter dem oft falsch verstandenen Label “freien Beweiswürdigung”). Im vorliegenden Fall trifft die juristische Grosszügigkeit für einmal die Staatsanwaltschaft.
Wesentlich interessanter als die Standarderwägung zum Indizienbeweis ist der folgende Satz in E. 3.2: “Das Berufungsverfahren stellt keine Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens dar und das Berufungsgericht ist auch keine zweite Erstinstanz; vielmehr knüpft das Berufungsverfahren an das erstinstanzliche Verfahren an und baut darauf auf.” Das ist als bundesgerichtliche Erwägung wirklich neu.
@Tantum: stimmt, danke für den Hinweis. Aber dieses Verständnis des Berufungsverfahrens ist m.E. nicht neu, sondern einfach nicht auf dem aktuellen Stand. Back to the future?
Was naturwissenschaftler dazu sagen, ist mir ehrlich gesagt schnuppe wurst, weil es nicht relevant ist. Rechtswissenschaft (jawohl, wissenschaft) ist eine sozialwissenschaft und folgt anderen prinzipien als eine naturwissenschaft. Sie deswegen herabzusetzen oder von meinungen von vertretern anderer wissenschaften abhängig zu machen, halte ich für verfehlt, auch wenn auch ich das recht und seine wissenschaft durchaus kritisch sehe.
Ich frage mich, ob du auch dann noch so leidenschaftlich dafür plädieren würdest, wenn du weder die Anklage, noch die Verteidigung führtest, sondern auf dem Stuhl der beschuldigten Person sässest.