Zum Umfang der Akteneinsicht im Entsiegelungsverfahren

In einem heute publizierten Urteil klärt das Bundesgericht Fragen um den Umfang des Akteneinsichtsrechts im Entsiegelungsverfahren (BGer 1B_28/2021 vom 04.11.2021). Hier zunächst der Grundsatz und die zu klärende Frage:

Grundsätzlich steht auch dem Siegelungsberechtigten im Entsiegelungsverfahren vor dem ZMG das Akteneinsichtsrecht zu (vgl. Art. 107 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 248 StPO). Dazu gehört insbesondere das Recht auf Einsicht in die Entsiegelungsakten im engeren Sinne, darunter in das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft und alle anderen Eingaben der Prozessbeteiligten im Verfahren vor dem ZMG, sowie auch das Recht auf Einsicht in die einschlägigen relevanten Untersuchungsakten, etwa Hausdurchsuchungsbefehle und Sicherstellungsprotokolle, auf welche die Staatsanwaltschaft ihr Entsiegelungsbegehren stützt. Es fragt sich, ob darüber hinaus auch noch ein Anspruch der beschuldigten Person besteht, im Entsiegelungsverfahren “Akteneinsicht” in sämtliche gesiegelten Unterlagen, Aufzeichnungen und Geräte zu erhalten, um auf diesem Wege allfällige tangierte Geheimnisinteressen zu substanziieren (E. 1.6, Hervorhebungen durch mich).  

Bei der Beantwortung der Frage lehnt sich das Bundesgericht nicht allzu weit aus dem Fenster und macht die Antwort letztlich von praktischen Kriterien abhängig. Das führt dazu, dass der Grundsatz zur Ausnahme und diese zum Regelfall gemacht wird, der dann aber natürlich Ausnahmen zulässt:

Zwar gehören grundsätzlich auch die sichergestellten und gesiegelten Asservate zu den Entsiegelungsakten im weiteren Sinne. Der Inhaber der Geräte bzw. Geheimnisherr der sichergestellten Aufzeichnungen, der gegenüber den Strafbehörden ein Siegelungsbegehren gestellt hat, müsste jedoch in der Regel bereits im Zeitpunkt der Sicherstellung und Siegelung wissen, was sich auf seinen eigenen Geräten und Unterlagen befindet. Spätestens im Entsiegelungsverfahren vor dem ZMG sollte er wenigstens in den Grundzügen substanziieren können, welche angeblichen, der Entsiegelung entgegen stehenden Geheimnisrechte tangiert sein sollen (sogenannte “Anfangshinweise” auf mögliche geschützte Geheimnisinteressen). Bei einer unbeschränkten und pauschalen Einsicht in alle sichergestellten und gesiegelten Geräte bzw. in sämtliche darin gespeicherten Aufzeichnungen durch die beschuldigte Person bestünde demgegenüber die Gefahr, dass der Zweck der Sicherstellung unterlaufen und das Verfahren zudem stark kompliziert und verteuert werden könnte. Eine zurückhaltende Praxis drängt sich schon deshalb auf, weil die Herstellung von umfangreichen elektronischen Datenkopien zum Zwecke der Akteneinsicht in der Regel sehr aufwändig wäre und die Verfahrenskosten erheblich erhöhen würde. Eine Rückgabe der sichergestellten und versiegelten Geräte oder Aufzeichnungen an die beschuldigte Person (im Original) zu Akteneinsichtszwecken käme – aus naheliegenden Gründen der Vermeidung von Verdunkelung – zum Vornherein nicht in Frage. Im Übrigen hat eine ausführliche Sichtung und Aussonderung der gesiegelten Gegenstände und Aufzeichnungen im Entsiegelungsverfahren nicht durch die Parteien selber zu erfolgen, sondern, auf ausreichend substanziierte Vorbringen hin, durch den Entsiegelungsrichter. Die Akteneinsicht dient grundsätzlich nicht einer nachträglichen detaillierten Sichtung aller gesiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände durch die Parteien, sondern der Wahrnehmung ihres rechtlichen Gehörs im Hinblick auf die tatsächlichen und rechtlichen Argumente, welche die Staatsanwaltschaft ihrem Entsiegelungsgesuch zugrunde legt. Im Regelfall kann die Akteneinsicht im Entsiegelungsverfahren daher nicht der Durchsuchung von sichergestellten und gesiegelten Geräten durch die beschuldigte Person dienen, damit diese – ex post – noch nach allfälligen Argumenten für einen Geheimnisschutz forschen kann. Nur wenn die beschuldigte Person nachvollziehbar begründet, weshalb sie ohne nachträgliche Gesamtdurchsicht von Geräten und Aufzeichnungen überhaupt nicht in der Lage wäre, ihre mit Anfangshinweisen bereits plausibel gemachten Geheimnisinteressen ausreichend zu substanziieren, könnte sich eine solche umfassende “Akteneinsicht” von Bundesrechts wegen ausnahmsweise als geboten erweisen. Die detaillierte Triage und Aussonderung von geheimnisgeschützten Aufzeichnungen und Dokumenten, etwa von Anwaltskorrespondenz oder ärztlichen Patientenunterlagen, hat dann nötigenfalls durch das ZMG zu erfolgen, auf entsprechende substanziierte und zumutbare Angaben des Inhabers oder der Inhaberin hin (Art. 248 Abs. 3-4 StPO). 

Was das Bundesgericht übersieht ist, dass die sichergestellten Informationen eigentlich nie auf den Original-Informationsträgern benötigt werden. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, dass die interessierenden Datenträger (forensisch) kopiert werden. Das ist entgegen der Auffassung des Bundesgerichts alles andere als aufwändig, jedenfalls bei elektronischen Daten. Es erhöht auch nicht die Kosten, zumal ja auch das ZMG mit Kopien arbeiten muss.

Ergebnis:

  1. Volle Akteneinsicht als Grundregel
  2. Ausnahme: keine Einsicht in versiegelte Akten (= neuer Regelfall?)
  3. Ausnahme vom neuen Regelfall: Akteneinsicht in versiegelte Akten nur bei nachvollziehbar begründeter Unmöglichkeit, der Substanziierungspflicht ohne Einsicht in versiegelte Akten genügen zu können.