Zum Zeugnisverweigerungsrecht bei faktischer Lebensgemeinschaft
Dass es Zeugnisverweigerungsrechte gibt, belegt zunächst, dass das Strafprozessrecht Werte anerkennen muss und auch anerkennt, die über demejnigen der Wahrheitsfindung stehen.
Wenn es dann darum geht, den Personenkreis zu definieren, dem ein solches Privileg zusteht, wird es bisweilen ziemlich absurd. Dass etwa die Ehegatten der beschuldigten Person privilegiert sind, versteht sich fast von selbst. Das Gesetz muss dann aber doch auch Personen privilegieren, die – ohne verheiratet zu sein – in einer ähnlichen Beziehung zur beschuldigten Person stehen, was es auch tut, indem es gemäss Art. 168 Abs. 1 lit. a StPO die faktische Lebensgemeinschaft der Ehe gleichgestellt.
In der Praxis wird die Gleichstellung dann aber wieder infrage gestellt. Sind der Zeuge und die beschuldigte Person nämlich nicht verheiratet, ist auf die “gesamten Umstände des Zusammenlebens” abzustellen. Dazu zählt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auch die Frage der Ausschliesslichkeit. Darab hält es in einem aktuellen Entscheid fest (BGer 6B_967/2019 vom 07.05.2020):
Bei der Prüfung der Frage, ob jemand das Zeugnis verweigern kann, weil er mit der beschuldigten Person eine faktische Lebensgemeinschaft führt, sind die gesamten Umstände des Zusammenlebens bzw. der Gemeinschaft von Bedeutung und daher zu würdigen. Dem Beschwerdeführer ist beizupflichten (…), dass eine Beziehung nicht bloss wegen einer Geschäftsreise endet oder weil äussere Umstände – wie der Antritt einer neuen Arbeit an einem anderen Ort – einem ununterbrochenen Zusammenleben entgegen stehen. Die ständige und ungeteilte Wohngemeinschaft ist nicht zwingendes Element einer faktischen Lebensgemeinschaft (siehe zur Lebensgemeinschaft im berufsvorsorglichen Sinne BGE 134 V 369 E. 7.1 S. 379 f. mit Hinweisen). Allerdings verneint die Vorinstanz das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft nicht alleine deshalb, weil der Beschwerdeführer am 16. Dezember 2015 nicht mit B. zusammenwohnte. Die Vorinstanz geht ausserdem davon aus, im Dezember 2015 habe er neben dem Verhältnis zu ihr, dasjenige zu D. gepflegt. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er in dieser Zeit mit beiden Frauen gleichzeitig eine Liebesbeziehung geführt hat. Er zitiert selber aus den Aussagen von D. anlässlich ihrer Einvernahme vom 22. Januar 2016, wonach sie ihn im Dezember 2015 und Januar 2016 häufiger als vorher gesehen habe und er jetzt praktisch bei ihr wohnhaft sei (…). Der Beziehung zwischen B. und dem Beschwerdeführer fehlt bzw. fehlte es daher am Ausschliesslichkeitscharakter. Der Einwand des Beschwerdeführers, bei der Qualifizierung einer Lebensgemeinschaft sei die Einschätzung der zum Zeugnis aufgerufenen Person und deren innere Einstellung massgebend (…), ist zwar zutreffend, geht hier aber an der Sache vorbei. Dass B.. von einer festen Liebesbeziehung ausging und ihn – wie der Beschwerdeführer vorbringt – als wichtigste Vertrauensperson erachtete, zeigt die Tiefe der geistig-seelischen Komponente der Beziehung für sie auf. Die weiteren Ausführungen des Beschwerdeführers beziehen sich ebenfalls vor allem auf die Intensität ihrer Relation. Um eine faktische Lebensgemeinschaft von einer vorübergehenden Beziehung bzw. vom bloss temporären Zusammenleben eines Liebespaares zu unterscheiden, ist jedoch eine gefestigte Situation, d.h. eine gewisse Stabilität und Beständigkeit vorauszusetzen. Notwendig ist eine Beziehung von einer gewissen Intensität und Dauer (…). Dies ist vorliegend nicht gegeben. Der Beschwerdeführer zog am 19. September 2015 bei B. ein (…). Ohne im Grundsatz für das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft eine bestimmte Mindestdauer festzulegen, ist, selbst gestützt auf die Angaben des Beschwerdeführers, wonach sie am 10. Juni 2016 noch ein Paar und auf Wohnungssuche gewesen seien, eine hinreichend lange dauernde Gemeinschaft nicht gegeben. In Anbetracht der gesamten Umstände ist hier das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft, namentlich auch am 16. Dezember 2015, zu verneinen. Daher erwägt die Vorinstanz zu Recht, B. habe sich nicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht gemäss Art. 168 Abs. 1 lit. a StPO berufen können, weshalb sie nicht darauf hingewiesen werden musste. Ihre Aussagen anlässlich der polizeilichen Befragung vom 16. Dezember 2015 sind folglich verwertbar. Es erübrigt sich somit auf die weiteren, in diesem Zusammenhang erhobenen Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend Folgen der Unverwertbarkeit einzugehen (E. 2.4).
Wesentlich klüger wäre eine gesetzliche Lösung ohne jegliche Aussagepflichten. Einen Menschen zu einer Aussage verpflichten zu wollen, die er nicht machen will, verletzt m.E. den Kern seiner eigenen Persönlichkeitsrechte.
Würde eine Lösung ohne gesetzliche Aussagepflicht nicht dazu führen, dass der Erpressung und Bestechung von Zeugen Tür und Tor geöffnet würde?
Vielen Dank (auch) für diesen Blog-Beitrag! Mit dem Schlusswort bin ich nicht einverstanden. Sie schreiben:
“Wesentlich klüger wäre eine gesetzliche Lösung ohne jegliche Aussagepflichten. Einen Menschen zu einer Aussage verpflichten zu wollen, die er nicht machen will, verletzt m.E. den Kern seiner eigenen Persönlichkeitsrechte.”
Das Aussageverweigerungsrecht ist gewiss ein Ausfluss der Persönlichkeitsrechte, aber nicht in dem Sinn, dass es universal für alle Sachverhalte gilt, weil (wie Sie glauben) stets sein Kerngehalt betroffen wäre. In zahlreichen Konstellationen wiegt das staatliche Interesse an der Wahrheitsfindung schwerer als das an sich schützenswerte Interesse des Zeugen, zu schweigen. Wieso? Weil eine Aufklärung von Straftaten ein absolutes Grundanliegen einer jeder Rechtsgemeinschaft ist und oftmals nicht ohne Zeugenaussage auskommt. Dieses Grundanliegen gilt zwar in jedem Fall, kann aber bei Ehepartnern und echten faktischen Lebensgemeinschaften nicht auf die Aussage des Partners zurückgreifen, ausser dieser sagt freiwillig aus. Im Zeugnisverweigerungsrecht des Ehepartners drückt sich eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Ideal der Liebe aus. Das ist richtig so. Aber wo dieses Ideal nicht angerufen werden kann, weil der Zeuge keine Liebesbeziehung zum Tatverdächtigen hat, kann er sich auch nicht auf den “Kern seiner Persönlichkeitsrechte” berufen. Für den Kerngehalt muss schon ein Ideal wie die Liebe tangiert sein.
Vielleicht überzeugt Sie das ja?
@TS: Alles gut, aber Wahrheitsfindung durch Verpflichtung zu (wahren) Aussagen ist eine Illusion. Aussagepflichten sind faktisch auch nicht durchsetzbar.