Zur Auslegung polizeilicher Befragungsprotokolle

Der Kassationshof in Strafsachen hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Bern auf, indem er sowohl eine staatsrechtliche Beschwerde als auch eine Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten gutheisst, der auf der Autobahn ein anderes Auto bei Tempo 120 vorsätzlich gerammt hatte. Der Beschwerdeführer ist laut dem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid (6S.307/2006 vom 28.12.2006) nicht wegen versuchter Tötung (Art. 111 StGB), sondern wegen Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) zu verurteilen (s. dazu die kritischen Anmerkungen von fel. in der NZZ).

Mich interessiert hier in erster Linie die Position, welche das Bundesgericht bei der Gutheissung der Willkürrüge vertritt. Es geht um die Auslegung eines polizeilichen Protokolls. Dem Beschwerdeführer war folgende Frage gestellt worden:

Waren Sie sich bewusst, dass dies sehr gefährlich hätte werden können und evtl. sogar Tote hätte geben können?

Seine Antwort hat die Polizei wie folgt protokolloert:

“Ja, ich war mir dies bewusst und hätte dies auch in Kauf genommen. Aber ich wollte diesem ‘Glatzkopf’, welcher Beifahrer war, eines auswischen. Ich war sehr wütend auf ihn. Zu zweit hätten wir gegen diese Gruppe sowieso keine Chance gehabt. So musste ich es halt auf diese Art und Weise machen.”

Die Vorinstanz “hängte” den Beschwerdeführer an diesem Satz auf, indem sie die Aussage als Eingeständnis eines eventualvorsätzlichen Tötungsversuchs würdigte (“hätte dies auch in Kauf genommen”). Dies qualifiziert das Bundesgericht als willkürlich:

Es fällt auf, dass der Beschwerdeführer in seiner Antwort laut Protokoll die Wendung “in Kauf genommen” gebraucht, wovon in der Frage laut Protokoll nicht die Rede ist. Die Frage betrifft nur das “Bewusstsein”, und zwar das Wissen darum, dass es einerseits hätte sehr gefährlich werden und andererseits gar Tote hätte geben können. Ob der Beschwerdeführer gemäss seiner protokollierten Antwort nur die Gefährlichkeit oder aber auch allfällige Tote “in Kauf nahm”, ist damit unklar. Zudem verfügt der aus dem Kosovo stammende Beschwerdeführer zwar über Deutschkenntnisse, doch sind diese nicht sehr gross (…). Vor allem aber ist auszuschliessen, dass der damals nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer als juristischer Laie die Bedeutung und Tragweite der laut Protokoll von ihm verwendeten Formulierung “in Kauf nehmen” – im Sinne des voluntativen Elements des Eventualdolus – gekannt hat, zumal sich aus dem Protokoll nicht ergibt, dass er darüber aufgeklärt worden ist. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit der von ihm laut Protokoll verwendeten Formulierung “in Kauf nehmen” nicht etwas wesentlich anderes meinte als das Wissen um die Gefährlichkeit und die Möglichkeit von Todesfolgen, nach dem er laut Protokoll gefragt wurde. Der angefochtene Entscheid ist daher willkürlich […]. (E. 3.1, Hervorhebungen durch mich).

Der Entscheid – so begrüssenswert wie überraschend er ist – muss wohl im Zusammenhang mit der ebenfalls gutgeheissenen Nichtigkeitsbeschwerde gesehen werden, nach deren Beurteilung die Frage des Eventualvorsatzes gar keine Rolle mehr spielen wird. Wichtig wäre gewesen, wenn das Bundesgericht festgestellt hätte, dass polizeiliche Befragungsprotokolle keine Wortprotokolle sind und dass es schon aus diesem Grund abwegig ist, daraus wortklauberisch Schlüsse zulasten des Befragten ableiten zu wollen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an meine “Lieblingsfrage” bei Betrugsdelikten:

War Ihre Täuschung arglistig?

Hier sehe ich die Arglist in erster Linie in der Fragestellung.