Zur gesetzlichen Grundlage nach Art. 36 Abs. 1 BV
Einschränkungen von Grundrechten bedürfen nach Art. 36 Abs. 1 BV einer gesetzlichen Grundlage. Als solche genügt dem Bundesgericht neuerdings auch ein Personalreglements, das vom Gerichtsrat des Kantons BS erlassen wurde (BGer 2C_546/2018 vom 11.03.2019, Fünferbesetzung, ohne Publikation in der AS).
Das Reglement enthält folgende Vorschrift:
Die Präsidentinnen und Präsidenten, die Richterinnen und Richter, Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber sowie weitere an der Beratung des Gerichts beteiligte Personen wie insbesondere Volontärinnen und Volontäre haben sich in Verhandlungen und bei der Eröffnung von Entscheiden in Anwesenheit der Parteien oder der Öffentlichkeit dem Tragen sichtbarer religiöser Symbole zu enthalten.
Das soll als gesetzliche Grundlage genügen, auch wenn es gar nicht von der Legislative erlassen wurde. Dass es tatsächlich eher nicht genügt, erschliesst sich aus der Begründung des Bundesgerichts, das die Verantwortung auf den Beschwerdeführer abzuwälzen versucht:
Dass die Kantonsverfassung die Delegation von Befugnissen zum Erlass anderer Bestimmungen ausschliessen würde, macht der Beschwerdeführer aber jedenfalls nicht rechtsgenüglich geltend, zumal die Justizverwaltung nach § 112 Abs. 2 KV Sache der Gerichte ist (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; E. 2.1 hiervor) [E. 4.4.3. Hervorhebungen durch mich].
Mit dem Streitgegenstand befasst sich ein Aufsatz im aktuellen Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl 3/2019): Elisabeth Joller, Darf Justitia ein Kopftuch tragen? Kopftuchverbote für Gerichtspersonen im Spannungsfeld zwischen staatlicher Neutralität, Religionsfreiheit und dem Schutz vor Diskriminierung.
Während dort vor einer indirekten Diskriminierung von muslimischen Juristinnen ausgegangen wird, führt jetzt ein Rechtsanwalt Beschwerde, der sich seinerseits in seiner Religionsfreiheit beeinträchtigt fühlt. Ausgangspunkt für die Reglementsanpassung war offenbar die Bewerbung einer Kopftuch tragenden Praktikantin an einem Basler Gericht.
Sie sind mir damit zuvorgekommen, auf meinen Beitrag zum Thema im ZBl aufmerksam zu machen – vielen Dank für die Werbung!
Peinlich sind auch Fallfehler in gerichtlichen Reglementen. (Korrekt: „sich … des Tragens … zu enthalten“)
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich an Religionsfragen Kriege entzünden. In der Gerichtswelt kann der blosse Anschein eines Problems dazu führen, dass das Personal ausgewechselt wird (Ausstand). Zurückhaltung mit potentiell konfliktreicher Symbolik ist also angebracht. Von Gerichtsmitgliedern kann erwartet werden, dass sie nicht eigene Befindlichkeiten, sondern die Anliegen der Parteien ins Zentrum rücken.
Das sehe ich auch so. Aber zu regeln hat das m.E. der Gesetzgeber und nicht die Justiz.
@ kj: Der „Gesetzgeber“ muss nicht zwingend das Parlament unter meist fakultativer Mitwirkung des Stimmvolkes sein. Der Eingriff muss in einer generell-abstrakten Norm geregelt sein; das ist entscheidend. Eine solche kann mitunter auch ein Reglement sein und damit als „gesetzliche“ Grundlage i.S.v. Art. 36 BV gelten. Sofern es sich auf eine Delegationsnorm in einer höherrangigen Norm stützt, ist dem Erfordernis der gesetzlichen Grundlage Genüge getan. Bei starken Grundrechtseingriffen ist aber ein Gesetz im formellen Sinne erforderlich.
Bei Religionsfragen habe ich generell Mühe mit der Bundesgerichtspraxis, wonach die Religionsgemeinschaft selbst faktisch den Geltungsbereich des Grundrechts bestimmt. Das ist gefährlich und erlaubt es den Religionsgemeinschaft, schlichtweg alles, also jede Kleinigkeit des täglichen Lebens, grundrechtlich zu thematisieren.
Aber das gehört wohl nicht mehr zum Strafprozessblog.
Ein Ausstandsbegehren ist dann begründet, wenn bei objektiver Betrachtung Umstände vorliegen, die an der Unvoreingenommenheit der Gerichtsperson in einer konkreten Streitsache zweifeln lassen. Wann wäre denn Ihres Erachtens eine Konstellation gegeben, in der allein wegen der Religionszugehörigkeit einer Gerichtsperson deren Befangenheit zu bejahen wäre – zumal im Strafrecht? Wie wäre es denn, wenn ich als Verfahrenspartei zufällig beobachten würde, wie sich eine Richterin in einen Gottesdienst oder eine Moschee begibt – könnte ich dann auch deren Ausstand verlangen? Und wenn Sie die religiöse und weltanschauliche Überzeugung einer Gerichtsperson als blosse „Befindlichkeit“ abtun, wieso wäre dann dem Umstand, dass sich eine Verfahrenspartei am blossen Anblick eines Kreuzanhängers oder eines Kopftuchs stört, so viel Gewicht beizumessen? Den Verfahrensparteien wird auch anderes zugemutet, an dem sie sich eventuell stören könnten, z. Bsp. das Geschlecht oder die Parteizugehörigkeit einer Gerichtsperson. Wieso sollte es gerade bei der Religionszugehörigkeit anders sein?
Die Schweiz ist weitestgehend säkularisiert, zumindest was die originäre Bevölkerung anbelangt. Das gilt gerade auch für Mitglieder der Landeskirchen, man kontaktiere zB. die Website des SEK, wo mehr Menschenrechtsthematiken behandelt werden als religiöse Fragen. Das Tragen religiöser Symbole weist in der Tendenz auf eine starke Bindung zu einer Religionsgemeinschaft hin, die zwangsläufig auch das eigene Denken beeinflusst. Zwischenzeitlich waren gewisse Symbole wie das Kreuz und etwa die Hand der Fatima à la mode und wurden von vielen getragen, die keine religiöse Bindung haben.
Wenn eine Gerichtsperson nun also meint, ein religiöses Symbol wie das Kopftuch, die Kippa, das Kreuz oder einen Bart mit islamischer Bedeckung unbedingt tragen zu müssen, weist das auf eine sehr starke Bindung und Beeinflussung durch die eigene Religion hin.
Zum Strafrecht: Nehmen wir an, ein Jugendlicher wird verprügelt, weil er (vermeintlich) schwul ist. Es findet ein Strafprozess statt und der Jungendliche sitzt einer Muslimin mit Kopftuch, einem Christ mit übergrossem Kreuz und einer Jüdin mit Scheitl gegenüber. Sowohl das Christentum als auch das Judentum oder der Islam lehnen Homosexualität mehr oder weniger scharf ab.
Bei Personen, die sich selbst als mit Hoheitsgewalt ausgestattete Richter weigern, ihr religiöses Symbol abzulegen, muss aufgrund ihrer übergrossen religiösen Bindung befürchtet werden, dass sie derart durch ihre eigene Religion beeinflusst sind, dass sie zB ein homosexuelles Opfer nicht neutral behandeln und den Täter entschuldigen, weil es den Sündern ja eigentlich gebühre, Prügel zu kassieren.
Ein Richter, der sich im Gerichtssaal ein Parteiabzeichen ansteckt, und sich dafür auf seine politische Freiheit beruft…? Schauder
Mir ist die Parteizugehörigkeit von Richtern schon lange ein Dorn im Auge. Es muss der Unabhängigkeit ja nicht widersprechen aber deren Anschein verstärken tut sie bestimmt nicht…