Zur schweren psychischen Störung sui generis
Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts zur psychischen Störung (vgl. dazu meine früheren Beiträge hier und hier) festigt und akzentuiert sich (BGer 6B_229/2020 vom 29.04.2020).
Das liest sich aktuell dann so:
Es ist sodann nachvollziehbar, dass ein psychisches Störungsbild und ein Substanzmissbrauch in dieser Kombination gutachterlich und in der Folge von beiden kantonalen Gerichten als schwere psychische Störung im Sinne von Art. 59 Abs. 1 StGB (vgl. zur Publikation bestimmtes Urteil 6B_933/2018 vom 3. Oktober 2019 E. 3.5.3 f.) eingestuft wurde (…). Zu verweisen ist hinsichtlich der Argumentation in der Beschwerde ausserdem auf die weiter differenzierenden E. 3.5.5 und E. 3.5.6 dieses Urteils 6B_933/2018, wonach der (funktionale) Begriff der psychischen Störung auf die Rückfallprävention auszurichten ist und deshalb die forensisch-psychiatrische Begutachtung nicht abstrakt auf die Codierung des ICD-10 abgestellt werden kann, dass vielmehr eine Kombination von minder schweren Befunden eine Störungsqualität in der gesetzlich vorgesehenen Schwere begründen kann (a.a.O., E. 3.5.6). Es steht ausser Frage, dass dieser Sachverhalt (auch) der sorgfältigen juristischen Prüfung bedarf, insbesondere beim umstrittenen Störungsbild der dissozialen Persönlichkeitsstörungen (vgl. a.a.O., E. 3.5.4 zur angekündigten überarbeiteten Fassung des ICD-11) [E. 1.4, Hervorhebungen durch mich].
“In der gesetzlich vorgesehnen Schwere”? Ich kommentiere das jetzt nicht und verweise lieber auf zwei aktuelle und wichtige aktuelle Aufsätze zur neuen Rechtsprechung. Das Bundesgericht wollte sich offenbar nicht mit der darin geäusserten Kritik auseinandersetzen:
- Bommer, Schwere psychische Störung und schwere systematische Folgen, in: recht 1/2020, 24 ff.
- Habermeyer/Lau/Hachtel/Graf: Kritische Anmerkungen aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht zu den Bundesgerichtsurteilen 6B_933/2018 vom 3.10.2019 und 6B_828/2019 vom 5.11.2019, in: recht 1/2020, 37 ff.
Im zitierten fall lag ja zumindest eine diagnose nach diagnostischen standards vor, im unterschied zum leitentscheid zu den psychischen störungen sui generis. Diese rechtsprechung wird sich über kurz oder lang nicht halten können. Die forensischen psychiater im zitierten aufsatz zeigen nachvollziehbar auf, dass sie, selbst wenn sie wollten, den anforderungen gemäss bundesgericht nicht nachkommen können. Man kann nicht einen psychiater als sachverständigen zum vorliegen einer psychischen störung befragen und erwarten, er würde ausserhalb seiner diagnosestandards eine aussage machen können (ausser natürlich man ist dieser eine gutachter). Es wäre wie wenn man einen juristen beauftragen würde, eine rechtsfrage zu beantworten, ihm aber sagen würde, er solle dies ausserhalb der gesetzlichen grundlagen tun. Zurecht sagen die psychiater: wenn es für die psychische störung gemäss stgb nicht auf diagnosestanards ankommt, wird die psychische störung ein reiner rechtsbegriff. Fair enough, aber dann fragt uns nicht!